Die schwäbische Kleinstadt erinnert an den Amoklauf. Der Bundespräsident regt medienübergreifenden Kodex für Berichte über Gewaltverbrechen an.

Hamburg. Am ersten Jahrestag des Amoklaufs von Winnenden hat Bundespräsident Horst Köhler einen neuen Medienkodex für die Berichterstattung über Gewaltverbrechen gefordert. "Wir brauchen klar definierte Berichterstattungsregeln, die gemeinsam mit den Medien erarbeitet werden; wir brauchen einen medienübergreifenden Pressekodex im Geist der Prävention", sagte Köhler bei der Gedenkfeier vor der Albertville-Realschule in der schwäbischen Kleinstadt.

Mehrere Hundert Trauergäste, darunter viele Schüler, gedachten der Opfer, die der Amoklauf eines 17 Jahre alten ehemaligen Schülers am 11. März 2009 gefordert hatte. Der Täter war in die Schule eingedrungen und hatte insgesamt 15 Menschen getötet, bevor er sich das Leben nahm.

Köhler forderte auch eine Verschärfung des Waffenrechts. "Hier muss noch mehr als bisher geschehen", sagte der Bundespräsident, "damit gefährdete Menschen nicht an Schusswaffen gelangen." Mit Nachdruck mahnte Köhler einen verantwortungsvolleren Umgang der Medien mit Gewaltverbrechen an. Seine Warnung: Intensive Berichterstattung, die den Täter in den Mittelpunkt stellt, könnte zum Anlass für Nachahmungstaten werden. "Es gibt keinen Grund, der es wert wäre, diesen Anlass zu schaffen", sagte Köhler, fügte aber hinzu, es gebe keine endgültigen Antworten, keine letzte Sicherheit vor solchen Gewalttaten. Er verwies darauf, dass es belegt sei, dass detaillierte Berichte über die Täter Nachahmer auf den Plan rufen.

Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die diese Zusammenhänge nachweisen. In einem im September 2009 vom Institut für Kriminologie der Universität Tübingen vorgelegten Untersuchung zur Berichterstattung nach Amokläufen wird auf zwei auch in anderen Untersuchungen immer wieder benannte Hauptgefahren hingewiesen: Zum einen können Medienberichte die Opfer traumatisieren, zum anderen aber Trittbrettfahrten oder sogar Nachahmungstaten provozieren.

Um Nachahmungstaten möglichst zu vermeiden, empfehlen die Tübinger Juristen für die Pressearbeit die folgenden Grundsätze:

- Es sollten keine Handlungsmotivationen vereinfacht werden.

- Es sollte nicht auf die Täter, sondern auf die Tat fokussiert werden.

- Es sollten keine Romantisierungen oder gar Heldengeschichten in die Berichterstattung einfließen.

- Der Tathergang sollte nicht zu konkret aufgezeigt werden.

- Fantasien der Täter und emotionales Bildmaterial sollten nicht zu anschaulich dargestellt werden.

Ähnliche Grundsätze sind bereits im Pressekodex und in den Richtlinien des Deutschen Presserates fixiert. In 16 Paragrafen geht es auch um die Achtung der Menschenwürde, Persönlichkeitsrechte, den "Verzicht auf unangemessene sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid", aber auch um Normen zur Nennung von Namen und zu Abbildungen.

Dass diese Empfehlungen nicht immer befolgt werden, steht außer Frage. Nach dem Amoklauf von Winnenden hat der Deutsche Presserat insgesamt 47 Verfahren eingeleitet und dabei drei öffentliche Rügen, eine nicht öffentliche Rüge, fünf Missbilligungen und sechs Hinweise erteilt.

"Im Kern liegt das Problem nicht in den publizistischen Grundsätzen, sondern in ihrer Einhaltung und Durchsetzung", heißt es in der Tübinger Studie.

Ist die Empfehlung des Bundespräsidenten damit überflüssig? Lutz Tillmanns, der Geschäftsführer des Deutschen Presserates, sagte dem Abendblatt: "Der Kodex des deutschen Presserates erfasst nur den Bereich Print und Internet. Einen medienübergreifenden Kodex, wie ihn der Bundespräsident jetzt anregt, hat es bisher nicht gegeben." Im Sinne einer besseren Prävention könne eine solche Richtlinie aber hilfreich sein.