Drama: Keine Angst.

20.15 Uhr ARD

Der Titel ist der pure Euphemismus, denn die Angst ist allgegenwärtig in dieser Geschichte von Martina Mouchot: Als Zuschauer schaut man sich den Film in ständiger Sorge um Becky an. Die 14-Jährige ist so etwas wie ein Engel der Barmherzigkeit inmitten eines Milieus, in dem Menschlichkeit leicht als Schwäche ausgelegt werden kann: Das Mädchen lebt mit seiner Mutter und drei Geschwistern in einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt. Hingebungsvoll kümmert sie sich um die kleinen Kinder; ihre Mutter konzentriert ihr Dasein derweil auf die Vernichtung von Alkohol. Als sich Becky schüchtern in Bente verliebt, einen gleichaltrigen Jungen aus besseren Verhältnissen, erlebt sie zwar ein kleines Glück, doch aus Sicht des Zuschauers vergrößert sich nun erst recht die Fallhöhe. Ausgerechnet an Beckys Geburtstag ereignet sich, was man die ganze Zeit befürchtet: Der neue Freund ihrer Mutter ist so angetan von Beckys Reinheit, dass er sie besitzen muss; und Bente, dessen Trost sie nun braucht, ist von seinen Eltern in ein Internat abgeschoben worden.

Die vielfach ausgezeichnete Regisseurin Aelrun Goette kennt dieses Milieu wie kaum eine andere Regisseurin: 2004 hat sie "Die Kinder sind tot" gedreht. Der Dokumentarfilm, für den sie den Bundesfilmpreis erhielt, beschreibt das Sterben zweier kleiner Jungs, die von ihrer Mutter in einer Hochhaussiedlung tagelang allein gelassen worden waren. Auch die zweite Ebene von "Keine Angst", die ständige Gegenwart von Gewalt, ist Goette vertraut: Ihr Erstlingswerk "Ohne Bewährung" (1997, Robert-Geisendörfer-Preis) war das Porträt einer jugendlichen Mörderin. In "Unter dem Eis" schließlich, Goettes Spielfilmdebüt, wird ein Kind aus Versehen zum Mörder.

Kein Wunder, dass "Keine Angst" mitunter wie eine Dokumentation des Schreckens wirkt. Gleichzeitig, und das ist wohl die größere Leistung, sorgt Goette immer wieder für Oasen des Friedens: Becky verkörpert so etwas wie die Hoffnung auf eine Perspektive. Sie ist ein auf fast überirdische Weise guter Mensch; deshalb schmerzt es umso mehr, als ihr Gewalt angetan wird.

Natürlich ist so eine Geschichte eine enorme Herausforderung für die Darstellerinnen. Dass sie ihre Sache grandios machen, ist das eine; das andere ist die Frage, wie sie die Dreharbeiten überstanden haben. Aber auch in dieser Hinsicht war dieser Film bei Goette in den besten Händen: Sie ist bekannt dafür, sich geradezu vorbildlich um ihre jungen Schauspieler zu kümmern.

Sie danken es ihr mit vorzüglichen Leistungen: Michelle Barthel (als Becky) trägt den Film mit spielerisch anmutender Selbstverständlichkeit; Carolyn Sophia Genzkow (als Mel) hat erst kürzlich in "Zivilcourage" prächtig mit dem großen Götz George harmoniert. Dritter im Bunde ist Max Hegewald.

Aber auch die erwachsenen Schauspieler in den Schlüsselrollen sind bestens besetzt. Dagmar Leesch versieht die Mutter, die ihre Kinder vernachlässigt, mit gerade eben noch so viel Würde, dass man sie auch als Opfer der Umstände sehen kann. Noch besser gelingt die Gratwanderung Frank Giering als Freund der Mutter, der ein durchaus netter Kerl sein kann. Bis er Becky vergewaltigt.