Iris Hanika erzählt davon, was passiert, wenn die NS-Vergangenheit im eigenen Kopf nicht verblassen will.

Hamburg. Kann die Auseinandersetzung mit Schuld und Verbrechen einen Menschen davon abhalten, an sein Leben, an sein eigenes Glück oder Unglück zu denken? Bei Hans Frambach, einem Mann in mittleren Jahren, scheint genau das der Fall zu sein. Ein einsamer, in sich gekehrter und ziemlich trauriger Mensch, Eigenschaften, die sein Beruf auch noch befördert: Er archiviert Zeugnisse der Naziverbrechen, vor allem der Judenvernichtung. Graziela Schönbluhm, seine beste und einzige Freundin, dachte und fühlte wie er. Doch leider war das nur früher so, als sie "noch nicht die Seiten gewechselt hatte". Wie wunderbar tauschten sich beide über das große Unglück aus - Auschwitz!

Und doch hat sich Frambachs Haltung auch schon geändert im Laufe der Zeit. Heute kann er in einer vollen U-Bahn fahren, ohne sofort an die Judentransporte zu denken; auch wenn er Birken sieht, steht nicht mehr das Arbeits- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau vor seinem inneren Auge. Das Gefühl der riesigen Bürde dieser Schuld, die sein Land zu tragen hat - und mit ihm er -, ist einer müden Leere gewichen, ohne Aussicht auf Verbesserung der Stimmung. Ob es gar zu spät ist, einem derart vernachlässigten Leben noch ein paar gute Seiten abzugewinnen?

Bei Graziela immerhin tut sich etwas. Sie hat sich verliebt. Das Verhältnis mit einem verheirateten Mann belebt sie auf nie zuvor gekannte Weise. So viel Lust und Freude bescheren ihr die kurzen Nächte mit dem Liebhaber, dass sie kaum noch die rechte Gesprächspartnerin für Frambach sein kann. Denn für sie scheint das Eigentliche in der Sexualität zu liegen, auf ihre auf diesen "blanken Kern reduzierte" Beziehung. Trotzdem wendet Hans Frambach sich nicht ab, würde er doch mit ihr den einzigen nahestehenden Menschen verlieren. Also bemüht er sich, die hochgestimmte Freundin zu ertragen.

Iris Hanika, die mit ihrem Liebesroman "Treffen sich zwei" 2008 begeisterte Kritiken erhielt und ob ihres Witzes, ihrer bravourösen Erzählweise hoch gelobt wurde, beweist sich auch in diesem Roman als herausragende Erzählerin. Wieder gelingt es ihr, den Leser anzurühren und mit Esprit zu unterhalten.

Handelte es sich beim vorigen Buch um die beglückende Erfahrung von Liebe, so geht es hier um das Aushalten eines Alltags, in dem jede Lebensfreude fehlt. Nicht dass Hans Frambach besonders gewinnend wäre, aber unsere Empathie ist ihm gewiss. So wie auch die Autorin mit ihm fühlt, wenngleich sie ihn auch ganz schön auf die Schippe nimmt, wobei sie ihn niemals bloßstellt. Schließlich ist er eine ehrliche Haut mit echten Gefühlen, die sich aber irgendwie verbraucht zu haben scheinen.

Ohne Furcht vor Tabubruch heftet Iris Hanika ihren Blick auf die gelegentlich wilde Blüten treibende Gedenkkultur in unserem Land; vom absurden Umgang des Archivs mit den banalsten Dokumenten ganz zu schweigen. Mit welcher Verve sie die Sache angeht, zeigt schon der Name, den sie der Arbeitsstelle ihres Helden gegeben hat: Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung. Der Chef des Archivs, Frambachs Vorgesetzter, versteht es wie kaum einer, sich ins rechte Licht zu setzen und vor allem erfolgreich Geld einzuwerben. Mit der Beschreibung der Ausstattung und Arbeitsweise des Archivs hat Iris Hanika eine veritable Glosse in ihren Roman eingebracht. Ohnehin webt sie in den Roman verschiedene Strukturen ein. Es finden sich Satiren und Exkurse in Literatur und Film. Und Abschnitte wie der, als Graziela im Taumel der Liebeswonnen Frambach zu verstehen gibt, dass er jetzt, wo sie einen Liebhaber habe, fast noch wichtiger für sie geworden sei als zuvor. Und da empfindet er sogar etwas, das Glück sein könnte. Sie weist ihn auf ein Buch von Marguerite Yourcenar hin und zitiert daraus: "Freundschaft ist vor allem Gewissheit, was sie von der Liebe unterscheidet." Am Ende liefert Hans Frambach unbeeindruckt eine messerscharfe Bewertung des Romans, der 1939 erschienen war.

Zum besseren Verständnis ihres Helden macht die Autorin uns auch mit einer wissenschaftlichen Erläuterung des Begriffs Acedia vertraut, der als Trägheit des Herzens aus Überdruss definiert wird und zur vollkommenen Passivität führen kann. Hans Frambach "wusste, dass er so vieles falsch machte, dass sein Unglück aus diesem falschen Tun erwuchs, aber es nützte nichts". Denn für ihn besteht das Eigentliche darin, dass das große Verbrechen kaum jemandem noch wehtut, ihm aber immer noch!

Iris Hanika: Das Eigentliche. Roman. Droschl Verlag, 19 Euro