Regisseur Tim Burton hat eine bizarre Vorlage nach Disney-Manier geglättet. Morgen kommt der Film “Alice im Wunderland“ in die deutschen Kinos.

Berlin. Wenn das keine im Himmel gestiftete Ehe zu werden versprach: Lewis Carrolls nonsens-anarchische "Alice im Wunderland" wird von Tim Burton auf die Leinwand gebracht, dem Meister des Skurrilen im Gegenwartskino. Und Johnny Depp assistiert ihm als der verrückte Hutmacher, eine Figur wie für ihn geschaffen. Eine Idealkombination, ein Dreamteam - hätte nicht auch ein Heiratsvermittler namens The Walt Disney Corporation seine Hand im Spiel.

Die "Alice"-Geschichten sind schon über 50-mal verfilmt worden, erstmals 1903, nur fünf Jahre nach dem Tod ihres Erfinders. Alice ist fast so beliebt bei Filmemachern wie Sherlock Holmes, der auch gerade eine erfolgreiche Wiederbelebung erfuhr, aber im Gegensatz zu Holmes hat das Kino Alice bisher nie zufriedenstellend in den Griff bekommen.

Carrolls Buchheldin hoppelt eben von einer merkwürdigen Begegnung zur nächsten, keine Spur von einer konventionellen Kinogeschichte mit Anfang/Mitte/Schluss. Außerdem waren die technischen Fähigkeiten der Kinomacher Carrolls Fantasie nie wirklich gewachsen; das weiße Kaninchen, die Grinsekatze, der Herz-Bube - immer wirkten sie im Realfilm irgendwie fehl am Platze.

In technischer Hinsicht ist die neue "Alice" die erste rundum geglückte Verfilmung. Burton verwendet ein Potpourri verschiedenster Trickverfahren. Helena Bonham-Carter als Rote Königin ist eine Mixtur aus Bleich-Make-up und Rotperücke einerseits und Computereffekten, die ihren Kopf abnorm vergrößern, andererseits. Matt Lucas verkörpert die rundlichen Zwillinge Diedeldum und Diedeldei mithilfe des in "Avatar" perfektionierten Motion-Capture-Verfahrens. Der Drache Jabberwocky und die Haselmaus sind nach Pixar-Vorbild computeranimiert.

Wer nichts anderes als einen unterhaltsamen Ausflug in ein x-beliebiges, farbenfrohes Wunderland auf dem neuesten Stand der Trickkunst erwartet, hat keinen Grund zur Beschwerde. Doch dies ist kein x-beliebiges Wunderland. Es ist Lewis Carrolls Wunderland, das (ältere) Kinder und (jung gebliebene) Erwachsene seit Generationen vor allem deshalb schätzen, weil es sich den Gesetzen der Logik und der Zweckmäßigkeit verweigert.

Hier kommt nun, zum Unglück für Alice, Linda ins Spiel. Die Drehbuchautorin Linda Woolverton besitzt ein Vierteljahrhundert Erfahrung darin, widerspenstige Stoffe stromlinienförmig zuzuschneiden, von "Dennis die Nervensäge" über "Die Schöne und das Biest" bis zum "König der Löwen".

Zunächst zwängt sie Alice rigoros in ein Anfang/Mitte/Schluss-Korsett. Ihre Abenteuer unter der Erde werden in einen Rahmen gepresst, in dem Alice 19 ist und auf einer großen Gartenparty gegen ihren Willen mit einem degoutanten Snob vermählt werden soll. Alice flüchtet ins Kaninchenloch, und als sie eine gute Stunde später wieder auftaucht, ist aus dem zögerlichen Teenager eine entschlossene Frau geworden; schließlich hat sie in bester Fantasy-Manier gerade ein Königreich befreit. Woolverton gelingt schlussendlich, was der Roten Königin versagt blieb, das "Kopf ab!". Burtons Alice hat einen neuen Kopf aufgesetzt bekommen, ihr Wunderland wirkt wie ein Abenteuer-Camp, in dem sich träumerische Mädchen auf die Härten des Berufslebens vorbereiten. Zu diesem Zweck hat Woolverton der mäandernden, zielfreien Erzählstruktur von Carroll ein eisernes Rückgrat eingerammt, das wie den "Chroniken von Narnia" entnommen scheint: Junge Heldin gerät durch einen geheimen Zugang (Kaninchenloch statt Wandschrank) in eine Parallelwelt, die von einer bösen Frau (Rote Königin statt Weiße Hexe) beherrscht wird. Am Ende steht, wie in jedem zweiten Fantasyfilm, der Kampf gegen das Drachenungeheuer, das hier, wie ebenfalls in jedem zweiten Fantasyfilm, von Christopher Lee gesprochen wird.

Viermal in sechs Filmen seit der Jahrhundertwende hat der Regisseur leicht bizarre Vorlagen ("Planet der Affen", "Charlie und die Schokoladenfabrik", "Sweeney Todd") burtonisiert, das heißt, noch etwas verschrobener ausgepinselt. Dieses Verfahren funktioniert beim "Wunderland" aber nicht, weil Carrolls Original schon derart wunderlich ist, dass ein Burton-Film für Disney es nur entschärfen kann, nicht verschärfen. Der Unterschied zwischen Buch und Film ist genau der zwischen "Glaub an deine Träume, auch wenn sie nirgends hinführen" und "Glaub an deine Träume, solange etwas Verwertbares dabei herauskommt".