Hamburg. Die Vorwahl brauchte er nicht anzusagen, die Rufnummer genügte. "Vier vier eins sieben sieben sieben", sagte der Herr mit der freundlichen Stimme, und dann stellte er sich vor, was eigentlich auch längst nicht mehr nötig war, denn wer in Norddeutschland Radio hörte in jenen Tagen, der kannte seinen Namen und verpasste nach Möglichkeit keine seiner Sendungen. "Doktor Marcus, was wollen Sie wissen?", lautete die Standardfrage.

Meistens wollten die Leute wissen, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Irgendwas lief schief, mit den Eltern, der Oma, in der Ehe, auf der Arbeit. Menschen in Krisen aller Art riefen diesen Doktor Erwin Marcus im Funkhaus an. Von November 1971 bis zum 28. Dezember 2000 strahlte der NDR Hörfunk einmal pro Woche mit ihm die knapp einstündige Ratgebersendung "Was wollen Sie wissen?" aus, die 1950 von Walther von Hollander begründet worden war. Wie der Sender mitteilte, ist Erwin Marcus jetzt nach langer, schwerer Krankheit mit 84 Jahren in Hamburg gestorben.

Wie sein Vorgänger besaß auch Marcus keine Ausbildung als Psychologe oder Lebensberater. Der in Hamburg geborene Radiomann, in dessen unüberhörbar hanseatischer Stimme Geduld, Einfühlungsvermögen und ein gesunde Distanz zum Gesprächspartner mitschwangen, war Richter von Beruf. 1952 hatte Marcus über das Thema "Freiwillige öffentliche Erziehung" promoviert. Für seine telefonischen Beratungen, die er jeweils zwei Tage vor der Sendung produzierte, brachte er vor allem Lebenserfahrung mit, unerschütterliche Ruhe und die Begabung zum Zuhören.

Marcus sprach mit Anrufern, die ihren Namen nicht zu sagen brauchten, und die Leute am Radio hörten zu, hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und akustischem Voyeurismus. Statt einer Runde Mitleid schenkte Marcus den Anrufern lieber Aufmerksamkeit. Seine Nachfragen waren eher behutsam als beharrlich, denn er hatte nicht die Absicht, seine Anrufer auf die Couch zu legen. Gern warb er beim jeweiligen Gesprächspartner um Verständnis für die andere Konfliktpartei, Perspektivwechsel lag ihm im Blut.

Mit zunehmendem Alter verlegte sich Marcus vom Seelsorgerischen mehr auf die Rolle des Vermittlers, der professionelle Beratungsstellen empfahl. Entsprechend weniger fesselnd gerieten die Gespräche. Doch in dem, wie Marcus Selbsthilfe anregte und Eigenverantwortlicheit stärkte, zeigte sich auch ein sympathisch wenig raumgreifendes Ego. Im Gedächtnis vieler Hörer hat die Sendung mit dem altmodischen Klingelton, der sechsstelligen Hamburger Festnetznummer und der lieben Stimme einen Ehrenplatz.