Vielleicht sind sie es, die sich erstaunt über unsere Anwesenheit zeigen. Wenn wir vorübereilen, wenden sich ihre steinernen Blicke einander zu, haucht es durch kalte Lippen: "Wie unruhig diese Menschen sind ... Was suchen sie, dass sie dauernd umherlaufen?"

Sie. Sie sind über uns. Sie kauern in Fassadennischen, thronen über Portalen der Kontorhäuser, schmiegen ihr Antlitz an Altbau-Putz oder balancieren auf Türmen und Firsten. Sie leben in eisiger Höhe, ungesehen, unerkannt. Und doch nur einen Augenaufschlag entfernt; wer den Blick vom Ichmusswohin hebt, der entdeckt die stillen Bewohner einer Stadt über der Stadt. Tausende Figurinen und Gesichter, Skulpturen und fantastische Plastiken, eine Zauberwelt versteckt in der unsrigen. Tanzende Jünglinge, barfuß vom Scheitel bis zur Sohle, die am Brahmskontor zum Hafen hinüberschmachten. Neptun, der in der Überwelt der Deichstraße am Wolkensaum spielt. Hermes auf dem Sprung über dem Stephansplatz zum Roulette, und über der Langen Reihe kämpft ein goldener Georg seit Jahrzehnten mit dem Drachen. Tugend und Weisheit, die sich über den Kaisern an der Rathausfront dem Sternengürtel näher fühlen als dem menschlichen Marschieren unter sich, Karyatiden-Krieger stemmen Winterhuder Balkone, über dem Rothenbaum brüllen frisierte Löwen. Am Elbhof plaudern zwei Matronen, auf der Lombardsbrücke betrachten pummelige Engel das Eilen der Gasfüße, am Zippelhaus haben sich Beethoven und Gutenberg nichts mehr zu sagen, seit dem Dialog: "Ich spür meine Beine nicht mehr." - "Ach was, du hast ja auch keine."

Sie sind überall, die stummen Wächter, verbannt zum Zusehen, zur Unsterblichkeit. Manchmal lassen sie es regnen, damit niemand sieht, dass sie weinen.

Manche kommen von ganz oben, um zu töten ...

Bestseller-Autor Andreas Franz liest aus seinem Kiel-Krimi "Eisige Nähe" (Knaur HC, 592 S.). Fr. 26.2., 20.15, Thalia-Buchhaus (S/U Jungfernstieg), Große Bleichen 19, Karten (10,-): T. 48 50 22 22; www.thalia.de

Nina George schreibt jede Woche in LIVE und liebt Hamburg.