Wenn in Oberammergau die Bärte wachsen, findet das Voralpen-Dorf zu seiner Bestimmung. Maike Schiller hat die Proben der Passionsspiele besucht. Und dabei auch erfahren, wie Erlöser und Erlöse dort miteinander verbunden sind.

Fast gleichzeitig nehmen die Jesi einen Schluck aus ihren Weißbierflaschen. Was prompt mehrere Fragen aufwirft. Darf man ein Weizen aus der Flasche trinken? Und: Heißt es wirklich Jesi? Jesen? Jesusse? Was ist die Mehrzahl von einem, der vor allem durch Einzigartigkeit aufgefallen ist? Den Heiland gibt es nicht im Plural.

Außer hier in Oberammergau.

Hier, wo die Zeit in Zehn-Jahres-Schritten gemessen wird, wo man Ereignisse nach oder vor "dem Passion" einordnet, wo die Alten jetzt mit dem Sterben warten und die Jungen schon als Säuglinge Statisten werden, gibt sich der kleine 5200-Seelen-Fleck einmal mehr seiner jahrhundertealten Bestimmung hin. Die Energien bündeln sich, alles drängt und arbeitet und wächst auf den 15. Mai hin und auf die darauffolgenden fünf Monate, wenn an jedem Tag dreimal so viele Fremde zu Besuch sein werden wie Oberammergau Einwohner hat. "5000 kemman, 5000 gengan, und 5000 san do", wird man dann hier wieder sagen.

Es ist 2010, es ist das Jahr der Passionsspiele.

Noch ist Februar in Oberammergau, noch verbirgt eine weiße dichte Schneedecke die Geschäftigkeit darunter. Es hört nicht auf zu schneien im Alpenvorland, der Frühsommer scheint weit, doch "der Passion" hat den Ort schon jetzt fest im Griff. Die Spiele sind - wie in dieser Gegend auch "der Butter" - männlich in Oberammergau, seit die Gemeinde im Pestjahr 1633 das Gelübde ablegte, alle zehn Jahre die Leiden Christi nachzuspielen, wenn der Herrgott sie dafür vor der Seuche verschone. Der, so erzählt es die Chronik, ließ sich tatsächlich auf den Handel ein, Oberammergau blieb ohne Pest. Seither halten die Dörfler ihr Wort.

Alle zehn Jahre werden aus ihrer Mitte zwei neue Jesus-Darsteller geboren. Andreas Richter, eigentlich Kinderpsychologe, und Frederik Mayet, eigentlich Pressesprecher des Münchner Volkstheaters, beide Mitte 30, wechseln sich in diesem Jahr ab. Fünf Monate werden sie jeden Tag ans Kreuz genagelt, fünf Monate werden sie jeden Abend auferstehen. Sie tragen langes Haar, Andreas etwas blonder als der schmalere Frederik, und mittlerweile auch lange Bärte. So wie alle im Dorf, die an den Spielen mitwirken, denn so sieht es der Oberammergauer "Haar- und Bart-Erlass" vor. Er hängt im Gemeindekasten, an Schwarzen Brettern und an Bushaltestellen und fordert seit dem Aschermittwoch des Vor-Passions-Jahres all jene Mitspieler auf, die keine Römer darstellen, sich die Haare und Bärte wachsen zu lassen.

Wer in diesen Tagen nach Oberammergau reist, könnte meinen, auf eine Horde vergessener Alpenhippies zu treffen. Die Kommune am Kofel, kernige Kerle mit wild wucherndem Gesichtswuchs, daneben coole Jungs, denen zwar nur ein Flaum sprießt, die mit ihren gebändigten Locken dafür wie besonders lässige Snowboarder daherkommen.

Die Proben sind in vollem Gange, die Bärte gedeihen durch alle Berufsgruppen und Familien, fast die Hälfte aller Oberammergauer ist bei den Spielen als Darsteller, Musiker oder Sänger dabei. Fremde nicht, so will es der Brauch; nur wer hier geboren oder seit mindestens 20 Jahren ansässig ist, darf bei der Passion mitwirken. Nachwuchssorgen gibt es keine: 300 Oberammergauer mehr als beim letzten Mal machen von ihrem Spielrecht Gebrauch. Denn auch das ist Passionsgesetz: Wer dabei sein will, der darf auch.

Spielleiter Christian Stückl - sonst Intendant am Münchner Volkstheater, Regisseur des Salzburger "Jedermann" und, natürlich, selbst in Oberammergau geboren - entscheidet über die Rollenvergabe. Der Gemeinderat hat ein Vetorecht.

Gegenüber dem Rathaus, im Kleinen Theater an der Schnitzlergasse, steht heute das Abendmahl auf dem Probenplan. Die Jesusse sind schon da, die Apostel trudeln ein, Wasser, Kaffee und Bier stehen in der Ecke. Die meisten greifen zum Bier, ein Schild mahnt gleich am Eingang: "Rauchfrei!". Für den Spielleiter allerdings scheint das nicht zu gelten. Christian Stückl zündet sich eine Zigarette nach der nächsten an, pafft sie in kurzen heftigen Zügen, sein helles Hemd spannt vorn über dem Bauch und hängt hinten locker aus der Hose. Die dunklen Locken fallen ihm in die Stirn, obwohl er diesmal - es ist seine dritte Passion als Spielleiter - auf das "solidarische Mitwachsenlassen" verzichtet hat. Sein Bart ist höchstens drei Tage jung.

"Menschenfischer" hat ihn einmal ein Reporter nicht ohne Bewunderung genannt, und es braucht keine Viertelstunde, um zu verstehen, was damit gemeint war. Stückls tiefe Stimme hallt durch den Raum, er lacht, er dröhnt, "ich bin halt der Animateur hier", sagt er, weihevolle Töne liegen ihm nicht. Er denkt nicht Abendmahl, er denkt Stammtisch, tigert unruhig durch den Raum, springt auf, spielt Szenen und Emotionen vor, übersetzt den Laienspielern den oft sperrigen Bibeltext. "Jetzt kimmt was nei, wo unguat is", ruft er und greift sich den Jünger Johannes. "Sag amol: Es ist alles eine große Scheiße!" - "Es ist alles eine große Scheiße", wiederholt Johannes brav und dann, im selben Tonfall, auch den Originaltext: "Wir hofften auf Licht und es kam Finsternis."

Stückl dampft vor Energie, die Kraft und Lust dieses rustikalen Theaterschöpfers füllt nahezu greifbar die Probebühne. Christian Stückl ist ein Glücksfall für die Passionsspiele, nicht nur weil er ein Theaterprofi ist, sondern weil er den Kopf in den Himmel recken kann und dabei doch fest im Ort verwurzelt ist.

In Sichtweite des Kleinen Theaters verkaufen seine Eltern in ihrem Gasthaus "Zur Rose" noch immer Schweinshaxe, Fleischpflanzerl und Hirschgulasch. "Regelrecht Panik" hatte seine Mutter, als er 1990 mit nur 27 Jahren das erste Mal die Spielleitung übernahm, erzählt Stückl und lacht. Sie wird gewusst haben, warum, sie ist gewissermaßen Kummer gewohnt: Schon in der sechsten Klasse flog ihr Sohn einst von der Klosterschule. Er hat den Unterricht geschwänzt und eine Unterschrift gefälscht. Um Kostüme für ein Krippenspiel zu nähen.

"Manchmal bist du wie ein Tsunami", hat die Sekretärin des Bürgermeisters erst kürzlich wieder zu ihm gesagt. Das sehen hier manche so und nicht alle meinen das liebevoll. Seine erste Passionsinszenierung war "a Schock fürs Dorf", gibt Stückl unumwunden zu. Er hat 1990 nicht nur Jesus als Revoluzzer gesehen, er hat auch durchgesetzt, dass verheiratete Frauen über 35 mitspielen dürfen, und er hat endlich die antisemitischen Passagen gestrichen. Ruhe ist seither nicht eingekehrt. Nach einem Bürgerbegehren, das er nur sehr knapp gewonnen hat, hat Stückl diesmal die Spielzeit in die Abendstunden verschoben.

Nicht alle Pensionswirte und Souvenirverkäufer, denen die Touristen bislang direkt aus dem Theater vor die Registrierkassen gespült wurden, fanden die Idee charmant. "Jeder hier denkt halt, er kennt den Passion schon seit immer, da ist jede Änderung ein Politikum", sagt Stückl, zuckt mit den Schultern und fummelt schon die nächste Zigarette aus dem Päckchen.

Tatsächlich lebt Oberammergau nicht nur für die Passion, es lebt auch von der Passion. Die Pro-Kopf-Verschuldung liegt hier deutlich über dem bayerischen Durchschnitt. "Oberammergau lebt immer neun Jahre über seine Verhältnisse", hat das der frühere Bürgermeister Rolf Zigon einmal polemisch zusammengefasst. Man hofft also auch finanziell auf den Erlöser. Rund 31 Millionen Euro kosten die Spiele 2010, eine Bürgschaft des bayerischen Finanzministeriums liegt vor. Allein die Gemeindeverwaltung rechnet nun mit mindestens 28 Millionen Gewinn, letztes Mal sind von den Einnahmen neue Schneekanonen angeschafft worden. Praktisch jeder Oberammergauer verdient an den Passionstouristen, von denen viele aus Amerika, aus Italien, sogar aus Japan und China an den Fuß des Kofel-Bergmassivs reisen.

"O'gau", wie man hier zärtlich sagt, ist für den Ansturm gerüstet. Die Hoteliers schreiben ihre Karten neu, mehrsprachig, mit angehobenen Preisen. In den Geschäften warten die Holzarbeiten der vielen lokalen Herrgottsschnitzer, ganze Laden-Himmel hängen voller blutiger Kreuzigungsszenen, es gibt Marienstatuen und Duftengel, Jesus-Kühlschrankmagneten, Miniatur-Krippen in Walnusshälften, Dirndlpüppchen und kleine Leierkästen mit der Bayernhymne.

Die "Oberammer-Gauner" haben schon immer gewusst, wie man das Notwendige mit dem Nützlichen verbindet. Viele Besucher haben sich in den vergangenen Jahrhunderten aus vielerlei Gründen für das Spektakel begeistert. Anton Bruckner war da, Richard Wagner soll hier zu seinen Bayreuther Festspielen inspiriert worden sein, Hitler begeisterte sich für Pontius Pilatus. Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der 1910 als junger Theaterkritiker der "Schaubühne" die Spiele besuchte, ätzte über die Geschäftstüchtigkeit der Passions-Dörfler, "Tand und Sudel" fand der Komponist Franz Liszt vor, und selbst der Papst, als er noch Kardinal Ratzinger war, mahnte: "Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Sie das Passionsspiel machen, um Ihre Kassen zu füllen."

Andreas Richter und Fredi Mayet lächeln sanft und schütteln dann die langen Haare. Ihre Familien spielen schon seit Generationen mit, sie waren im letzten Jahr in Israel zur Vorbereitung, sie opfern nicht nur ihre ganze Freizeit für die Spiele, sondern reduzieren auch in ihren eigentlichen Berufen die Stunden. Es geht hier nicht bloß ums Geschäft, es geht um die Gemeinschaft. "Der Passion hat eine solch starke integrative Kraft, das macht es für mich aus", sagt Frederik Mayet.

"O Gott", hat er ganz angemessen gedacht, als er im Vorjahr erfuhr, dass er die Hauptrolle spielen würde. Er hatte auf den Petrus spekuliert, den Judas vielleicht, immerhin hatte er vor zehn Jahren den Jünger Johannes gemeistert. Aber der Jesus? "Für den Jesus bewirbt man sich nicht", erklärt er und Andreas Richter nickt. Die Rolle sei eine Zumutung, habe Christian Stückl sie gewarnt, "und er hatte recht".

Den Part abzulehnen stand für beide trotzdem nie zur Debatte. Auch wenn man als Jesus plötzlich ungewohnt im Licht der Öffentlichkeit steht, auch wenn man von jedem erkannt, gegrüßt, beurteilt wird. Auch wenn die Scherze einiger Kollegen nicht abreißen. "Hier", sagt Mayet und hält Andreas Richter das Wasserglas hin: "Mach Wein draus!" Solche Scherze. Er lächelt. "Man gewöhnt sich dran."

Denn die Rolle ermögliche auch eine ganz neue, ganz nahe Auseinandersetzung mit der Figur Jesus. Seine Darsteller zeigen sich beeindruckt über die Klarheit und Aktualität der fast 2000 Jahre alten Aussagen: "Wir schaffen es ja immer noch nicht, den Nächsten zu lieben wie uns selbst!", sagt Fredi Mayet. Da müsse man aufpassen, "das Ganze nicht arrogant zu spielen".

Eine erste "Hängeprobe" hat es auch schon gegeben. 20 Minuten werden die Darsteller später am Kreuz aushalten, nur im Lendentuch, gesichert durch ein Bergsteigerseil. Es kann kalt werden dort oben auf der halb offenen Bühne, die Hände schlafen einem ein. "Da wird dir bewusst, was das für ein entsetzlicher Tod sein muss", sagt Andreas Richter. "Ich hab mich da oben jedenfalls nicht sehr entspannt."

Für Christian Stückl ist besonders die Auferstehung "ein ganz konkretes Problem": "Ich muss mir selbst im Klaren darüber sein, wie ich das verstehe, um es zu inszenieren. Ist da eine leibliche Auferstehung gemeint? Oder geht es eher um eine Auferstehung im Geiste? Es darf ja nicht lächerlich werden." Und Stückl möchte Christus nicht nur auf das Leiden reduzieren, er möchte, dass eine Botschaft bleibt, und hat einen Teil der Bergpredigt in den Text eingefügt. "Der Glaube ist ja so schwer greifbar", sagt er, schnauft und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Es ist jetzt seine Aufgabe, ihn begreifbar zu machen.

Die Jesusse haben ihr Weizen ausgetrunken, Judas hat seinen Freund verraten, Petrus hat ihn dreimal verleugnet. Die Probe ist für heute beendet. Es ist Nacht geworden in Oberammergau, "Vorsicht Dachlawinen" warnen kleine Schilder an den Grundstücken. Wer misstrauisch nach oben schaut, dessen Blick bleibt an der Lüftlmalerei der Fassaden hängen und am schroffen Kofel, der im Wintermondlicht steil aus dem Gebirge ragt. Die bärtigen Apostel stapfen durch den Schnee nach Hause, sie verteilen sich auf die sonst leeren Gassen, die eingerollten Textbücher in der Hand, die Strickmützen auf den langen Haaren. Eine ganze Weile noch hört man das Knirschen ihrer Schritte.