Geboren wurde sie als Elena Vasiliewna Mironowa. Und jetzt spielt sie eine Geschichte aus der Heimat ihres Vaters.

Hamburg. Man könnte sie glatt übersehen. Die ältere Dame im schwarzen T-Shirt und der gelben Strickjacke sitzt in einem Berliner Hotel in einer Sofaecke und trinkt Cappuccino. Gedämpfte Stimme, keine großen Gesten - im Gegenteil. Dabei hält hier eine Königin Hof: Helen Mirren ("Die Queen"). Die Frau lebt von Kontrasten.

In ihrem neuen Film "Ein russischer Sommer" spielt sie mit Christopher Plummer das Ehepaar Tolstoi, das nach 48 Jahren Ehe und 13 Kindern eigentlich nur noch zwei Dinge verbindet: Streit und die Erinnerung an bessere Zeiten. Mirren spielt Sofia Tolstoi wie eine Furie und mit Risiko. "In jeder Szene, in der Sofia zu sehen ist, übernimmt sie die Kontrolle und macht den anderen das Leben zur Hölle", erzählt sie. "Ich hatte Angst, dass sich die Zuschauer von diesem Charakter abwenden könnten. Vielleicht denken einige: Meine Güte, wird diese Frau jemals die Klappe halten?"

In natura sieht Mirren sehr viel zarter aus als die Frau auf der Leinwand; auch ihr eigenes Temperament ist auffallend anders als das der Filmfigur. Mirren ist an diesem Tag ruhig, charmant und aufmerksam. "Sofia ist ein ständiger Sturm. Ich selbst bin eher wie Tolstoi, mein Ehemann Taylor Hackford ähnelt viel mehr Sofia", sagt sie und bleibt sogar dabei ernst.

Wenn sie sich die grauen Haare ihrer aparten Kurzhaarfrisur aus dem Gesicht streicht, und das macht sie oft, sieht man ihr sternförmiges Tattoo auf dem Handrücken. Sie hat es sich in einem Indianerreservat in Minnesota stechen lassen. Womöglich geht es unter der Lady-Oberfläche recht unkonventionell zu? Eine Kollegin, die sie bei den Dreharbeiten längere Zeit begleitete, ist sich jedenfalls sicher: "Sie ist immer noch ein alter Hippie."

Inszeniert hat den Film US-Regisseur Michael Hoffman nach Jay Parinis Roman "Tolstois letztes Jahr" als deutsch-russische Koproduktion im Osten Deutschlands. Während ihre Kollegen Drehpausen oft in Hotels verbrachten, erkundete Helen Mirren "sexy Anhalt" (Sachsen-Anhalt, O-Ton Mirren) und Brandenburg per Mietwagen; sie schwärmt vom Spreewald.

Mit Russlands Geschichte, die der Film erzählt, ist die Britin auf besondere Weise verbunden. Ihre Familie stammt väterlicherseits aus Osteuropa. Der Großvater diente in der Armee des Zaren und wurde nach England geschickt, um Rüstungsgeschäfte einzufädeln. Dann brach die Revolution aus und schnitt ihm den Rückweg ab. Seine Frau und den Sohn, Mirrens Vater, konnte er noch nachholen. "Der wirtschaftliche Status meines Großvaters ähnelte dem Tolstois, auch was die Gesellschaftsschicht und das intellektuelle Niveau betrifft", sagt Mirren, die als Elena Vasiliewna Mironowa geboren wurde.

Sie wuchs in einer Familie voller Gegensätze auf: der adlige, zaristische Großvater einerseits und ihr kommunistischer Vater andererseits, der "das alles loslassen und vergessen" wollte. "Ich bin auch eine interessante Mischung aus Arbeiterklasse und Aristokratie", findet die 64-Jährige. Die Dreharbeiten führten bei ihr zu Déjà-vu-Erlebnissen: "Ich trug Kostüme, die mich aussehen ließen wie meine Großtanten auf den alten Fotos. Die Gebäude, die ländliche Umgebung - es sah aus wie unser ehemaliger Familiensitz. Ich kam mir vor, als wäre ich zurück in die eigene Familiengeschichte gestiegen, wie in einem Traum."

Weniger traumhaft gestaltete sich Mirrens Weg zur Schauspielerei. Finanziell waren ihre Eltern nicht auf Rosen gebettet. "Wir hatten keinen Fernseher, ich bin praktisch nie ins Kino oder Theater gegangen." Teenager Helen interessierte sich für die Kunst, aber ihre Eltern fanden ihre Wünsche nur "lächerlich". Sie spielte dann beim Youth Theatre und begann später eine Ausbildung zur Lehrerin. "Im zweiten Jahr der Ausbildung wusste ich, dass ich Schauspielerin werde wollte, aber ich wusste nicht, wie." Dann bekam sie die Hauptrolle in "Anthony and Cleopatra" und erhielt sehr gute Kritiken. "Am nächsten Tag haben zehn Agenten bei mir angerufen, die mich vertreten wollten."

Als sie 1982 diese Rolle noch einmal gab, bescheinigte ihr die Royal Shakespeare Company Vielseitigkeit: "Beängstigend flatterhaft, intelligent, erotisch, komisch und majestätisch tragisch im Tod".

So nobel waren ihre ersten Schritte beim Film nicht. Textilarme Rollen in "Das Mädchen vom Korallenriff" und "Caligula" waren seichte Versuche im Genre Ich-war-jung-ich-brauchte-das-Geld, zu denen sie allerdings nach wie vor steht. Heute, viel zu oft danach befragt, sagt sie: "Nacktszenen sind unerotisch. Ich ziehe mich lieber schön an als aus." Wie echte Reue klingt das nicht, sie steht zu ihren Tabubrüchen: "Schauspieler sind Schurken und Vagabunden. Ich kann es nicht leiden, wenn sie sich wie Rechtsanwälte benehmen."