Lange Interviews und eindringliche Aufnahmen aus dem Verlies dominieren die Doku “3096 Gefangenschaft“ des Hamburger Ex-Polizisten Peter Reichard.

Als kleines Mädchen wollte sie Schauspielerin werden. Daraus ist nichts geworden, wie aus den meisten Kleinmädchenträumen. Berühmt geworden ist Natascha Kampusch dennoch. Es ist die wohl traurigste Form von Berühmtheit, die man sich vorstellen kann. Achteinhalb Jahre war sie eine Gefangene, entführt und versteckt gehalten von Wolfgang Priklopil. Ihr Leben passte in ein nicht einmal fünf Quadratmeter großes Kellerverlies. Am 23. August 2006 gelang ihr schließlich die Flucht. Aus Natascha Kampusch, der Gefangenen, wurde Natascha Kampusch, die öffentlichste Person Österreichs. Ein Fall für die Titelseiten und Abendnachrichten, das Lieblingsobjekt von Sensationsreportern. "Natascha Kampusch - 3096 Tage in Gefangenschaft" heißt der 45-minütige Film, den der Hamburger Dokumentarfilmer und ehemalige Polizist Peter Reichard für den NDR gedreht hat. Als einzigem Kamerateam überhaupt erlaubte Kampusch Reichard und der Regisseurin Alina Teodorescu - ohne sie - Dreharbeiten in dem Verlies, in dem sie ihr Martyrium erlebte. Lange war es nicht sicher, ob es diesen Film überhaupt geben würde. Mehrfach wurden Termine angesetzt und wieder verschoben, es ging Natascha Kampusch oft nicht gut in dieser Zeit.

"Wir sind das Risiko eingegangen, dass am Ende nur ein achtminütiger Magazinbeitrag herauskommt oder vielleicht gar kein Film", sagt Patricia Schlesinger, Leiterin des NDR-Programmbereichs Kultur und Dokumentation. Bedingung aller anderen konkurrierenden Sender - und wer wollte keinen Film drehen über die Protagonistin der vielleicht meisten Sondersendungen weltweit? - war, dass Kampusch das Kamerateam in das Verlies begleitet. "Schon aus filmischen Gründen wäre das natürlich schön gewesen", sagt Schlesinger, "aber wenn sie es nicht kann, dann nehmen wir darauf eben Rücksicht."

Zweieinhalb Jahre haben die Vorbereitungen und die akribische Recherche, die Gespräche und die Dreharbeiten gedauert, der fertige Film ist vor allem zweierlei: Er ist bezwingend in seiner Einfachheit, den kargen Bildern und fast statischen Interviewsituationen. Und er ist würdevoll. Er schildert detailliert Kampuschs Leiden ohne voyeuristischen Blick und reißerische Momente. "Wir haben ihre Grenzen respektiert", sagt NDR-Kulturchefin Schlesinger, was nicht bedeutet, dass der Blick distanziert ist - im Gegenteil.

Beklemmung stellt sich ein, sobald Kampusch - mit den dazugehörigen Bildern - von ihrer Gefangenschaft erzählt, dem undichten Wasserhahn, der mit jedem Tropfen mehr Schimmel und feuchte Luft bedeutet hat. Eine Kulisse des Grauens. Sie schildert reflektiert den Reinlichkeitsfanatiker Priklopil, der ihr die Tränen mit Gewalt zurück in die Augenhöhlen drückte, damit sie keine Spuren auf den polierten Bodenfliesen hinterließen; der ihr eine Plastiktüte eng um den Kopf schnürte, damit ihre Haare das Zimmer nicht beschmutzten, bevor er ihr eine Glatze rasierte. "Das muss eine wahnsinnige Genugtuung für ihn gewesen sein: jemanden eingesperrt zu haben, von dem nicht mal seine Mutter wusste", sagt Kampusch.

Wie ein "ägyptischer Pharao" habe sie sich die meiste Zeit über gefühlt: tot und doch lebendig. Wie kann ein Mensch das überleben? Diese Frage haben Reichard und seine Frau Natascha Kampusch gestellt, nachdem sie gemeinsam mit ihr hinabgestiegen sind in das Verlies; die Frage stellt sich auch der Zuschauer fortwährend. Man kann es nicht erklären, man kann es auch nicht verstehen, man kann nur zuhören und versuchen, Bilder für den Schrecken zu finden. Nicht mehr und nicht weniger tut dieser leise Film.

Kampusch sagt "er", wenn sie von Priklopil spricht, manchmal auch "der Täter". Sie rechtfertigt sich im Film für all das, wofür sie sich schon so oft rechtfertigen musste in der Öffentlichkeit: Warum sie nicht früher geflohen ist, warum sie ihren Peiniger nicht hasst, ob es nicht doch einen zweiten Täter gegeben hat. Natascha Kampusch ist das lebende Beispiel für einen Menschen, der zweimal Opfer wurde. Während der Gefangenschaft und nach der Befreiung. Vielleicht ist dieser Film ihre letzte Rechtfertigung. Ihre Sicht der Dinge, der es nach der Ausstrahlung nichts mehr hinzuzufügen gibt. Vielleicht war der Film eine Möglichkeit, einen Schlussstrich zu ziehen unter die Entführung, eine Art Befreiung.

Das fensterlose Verlies in Strasshof bei Wien will Kampusch demnächst zuschütten lassen; möglich, dass diese Bilder die ersten und zugleich letzten sind, die hier entstanden. Weit mehr als die Hälfte der Dokumentation nehmen die Interviews mit Kampusch ein. Sieben Tage lang, immer jeweils einige Stunden, hat Peter Reichard, der früher unter anderem auch einen Film über den Mordfall Jakob von Metzler drehte, sie befragt. Außerdem gibt es Interviews mit Kampuschs Mutter und dem besten Freund Priklopils.

In einer der berührendsten Szenen singt Kampusch mit leiser, immer fester werdender Stimme eine Strophe aus dem Beatles-Song "From me to you". Singen, sagt sie danach, habe es ihr immer leichter gemacht, das Schreckliche zu ertragen. Daran hat sie sich bei den Dreharbeiten erinnert und einfach angefangen zu singen. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die helfen.

Heute lebt Natascha Kampusch, die bald 22 Jahre alt wird, alleine in einer Wohnung in Wien. "Ich möchte mich nicht so bald wieder nach den Bedürfnissen einer anderen Person richten", sagt sie.

Schauspielerin will sie nicht mehr werden. Stattdessen wolle sie lieber etwas Interessanteres, Nützlicheres machen. Nun, da sie endlich ihr Leben zurückhat, das man ihr so lange genommen hat. 3096 Tage lang.