Regisseurin Jette Steckel findet für ihre Inzenierung am Thalia Theater so bezwingende wie simple Bilder, das Ensemble spielt und singt fabelhaft.

Hamburg. Menschen zappeln im Riesennetz. Verstrickt in ihre Existenzkämpfe. Ein offenbar simples Bild hat Jette Steckel mit Bühnenbildner Florian Lösche für ihre "Woyzeck"-Inszenierung am Thalia-Theater gefunden. Doch wie die Regisseurin und die Darsteller den unsicheren Boden mit den Löchern über ein bloß technisches Geturne hinaus spielerisch und szenisch bedeutungsvoll auszuschöpfen wissen, ist spektakulär. Der Rahmen mit den Stricken füllt die Bühne aus. Er senkt sich horizontal, stellt sich vertikal auf zur Kletterwand. Das Netz spaltet auch schief hängend den Raum. Ist den Figuren Hindernis und Halt. Gefängnis, Schaukel, Trampolin. Mal Hölle, mal Himmel.

Keuchendes Atmen ist zu hören. Aus der Höhe steigt Woyzeck herab. Oben am Ende der Leiter haben sich offenbar seine Träume nicht erfüllt. Wie das "arm Kind" aus dem zu Anfang und Ende des Stücks erzählten Märchen kehrt er auf die Erde zurück - und ist ganz allein. Felix Knopp, barfuß und mit militärisch kurz geschorenem Haar, späht ins Dunkel der Bühne, starrt mit zusammengepressten Lippen in den Zuschauerraum, fragt: "Was ist der Mensch?" und stimmt den ersten Song von Tom Waits an: "Misery's the river of the world" - Elend ist der Lauf der Welt.

Ein finsteres Weltbild entwirft Steckel mit dem Büchner-Fragment von 1836 in der Bearbeitung von Robert Wilson und Tom Waits. Sie stellt dessen schief tönende Musik zwischen Jahrmarkt, Rock, Kurt Weill und Zirkus nicht ins Zentrum. Und hält sich mehr an Brecht als an Wilson: Alle Figuren sind ausnahmslos gefangen in den Verhältnissen. Den rau klingenden Sprechgesang ordnet die Regisseurin dem Dienst des Stücks unter: Um mit und in der Musik die in den lakonischen Dialogen unartikuliert bleibende Gefühlswelt der Figuren ausspielen zu lassen. Deren Ängste, Obsessionen, Sehnsüchte und Verzweiflung machen sich singend Luft. Sie schreien - wie Woyzeck - ihre Not heraus. Knopp feuert dabei mit heftig rudernden Armschwüngen die Musiker unter Gerd Besslers Leitung an. Sein Kumpel Andres singt und knipst übermütig das Saallicht aus und an. Jörg Pohl springt als albern lachender dummer Junge im Netz herum. Gafft hilflos schadenfroh, wenn Josef Ostendorfs massiger Tambourmajor Woyzeck auf den Boden niederdrückt.

Knopps Woyzeck hat Sensoren, die Andres, dem Doktor oder dem Hauptmann fehlen. Er wird von seinen Gefühlen und Visionen getrieben, ohne sie beherrschen geschweige denn nutzen zu können. Der Gedanke, die untreue Marie zu erstechen, ergreift von ihm Besitz. Reflexhaft rasch passiert dann der Mord. Danach erst begreift Woyzeck, was er getan hat, und singt dann seine Liebesklage.

Zuvor darf sich Marie zu "I lit a wooden match" ihren Traum erfüllen, auch einmal auf der Lichtseite des Lebens an der Rampe zu stehen. Maja Schöne tritt zögernd in den Spot, holt sich ein Mikro und glitzernde Pumps, "erwacht" dann herzerweichend traurig wieder in der bitteren Wirklichkeit. Schöne, früher im Schauspielhaus-Ensemble, gelingt eine überraschend kraftvolle Marie: Voll Lebensgier und Selbstbewusstein ist sie. Mit Sex und Wut im Bauch, die sie dem Tambourmajor in die Arme treiben.

Der "Mann wie a Baum" bekommt ebenso seine musikalische Solonummer. Im Duett mit Marie röhrt er "Alles geht zur Hölle". Philipp Hochmair lässt die Schizophrenie des moralischen Mörders in Uniform um sich schießend geradezu explodieren. Zum zynisch zündenden "God's away on business" klopft Tilo Werner als glatzköpfig-aasiger Doktor manisch in einem Body-Percussions-Wirbel den eigenen Körper ab und sorgt minutenlang für echte schwarzhumorige Tom-Waits-Stimmung. Auch der Idiot Karl (Julian Greis) singt schlafwandelnd sein Lied an den lausigen alten Mond und über die Lüge der "Glitzernden Dinge" und des Goldes.

Das Netz in Jette Steckels mitreißender, vom Publikum mit Bravos, rhythmischem Klatschen und Trampeln gefeierter Büchner-Inszenierung steht auch für das vom Menschen geschaffene (globale) System in der heutigen Zeit. Es führt zu wachsender Verarmung, ohne dass sich der Einzelne dagegen zu wehren vermag. Vor dem Hintergrund des löcherigen Sozialnetzes bekommt das Büchner-Drama aus der vergangenen Zeit eine aktuelle Perspektive, ohne ins platte Sozialdrama abzurutschen. Die Regisseurin lässt ihre einfallsreichen, sich bewegenden Bilder sprechen: Büchners Text verknüpft sie mit den Liedern von Waits, lasst manchmal beides parallel laufen.

Muscial-Schmiss lässt Steckel keinen Moment aufkommen. Sie streicht die Reprise des Eingangschors vom "elenden Weltenlauf", lässt stattdessen Gabriela Maria Schmeide das Märchen vom "arm Kind" sprechen. Nur eine Funzel von ausgedientem Scheinwerfer leuchtet der sarkastisch auflachenden Prophetin des Untergangs auf dem Weg durch die Finsternis.

Genau betrachtet bietet Steckels "Woyzeck" wenig Aussichten auf Glück. Und doch ist ihr das seltene Kunststück eines beglückenden Theaterabends gelungen Und auch das würdige Vorspiel, eine Art Paukenschlag-Prolog zu den Lessingtagen 2010. Denn die Begegnung der beiden Amerikaner Waits und Wilson mit dem deutschen Klassiker ergibt ein gelungenes Beispiel für ein kosmopolitisches, verschiedene Kulturen überspannendes Projekt.

Woyzeck wieder am 8., 9. u.19. Februar im Thalia-Theater (Alstertor), Karten unter T. 32 81 44 44