In der ausverkauften Color-Line-Arena denkt Andrea Berg über die Liebe nach. Literaturhaus-Chef Rainer Moritz war für das Abendblatt live dabei.

Hamburg. Erst gab sich der Busfahrer begriffsstutzig und wunderte sich, warum er an einem bitterkalten Sonnabend so viele Menschen Richtung Color-Line-Arena zu befördern hatte. Doch als ihm seine gut gelaunten Fahrgäste den Namen "Andrea Berg" zugeraunt hatten, vergaß er alle Dienstvorschriften und schmetterte ein "Du hast mich tausendmal belogen" so inbrünstig durch den Bus, dass sich selbst Hagenbecks Tierwelt zu regen schien.

Keine Frage, wer durch die Unterhaltungswelt der letzten 20 Jahre mit offenen Ohren gegangen ist, kennt Andrea Berg. Viermal mit dem "Echo", über zehnmal mit Goldenen und Platinschallplatten ausgezeichnet, gehört die bald 44-jährige Krefelderin zu den wenigen Sängern, die dem vor sich hindümpelnden Schlager Leben einzuhauchen wissen. Ihre 2001 erschienene "Best of"-CD rangierte über sechs Jahre in den deutschen Charts, ein Erfolg, der die Platzierungen der Beatles oder von Pink Floyd übertraf, und während viele ihrer Kollegen froh sind, die Eröffnung von Baumärkten oder Jahresfeiern der Klempner-Innung zu garnieren, füllt Andrea Berg die Color-Line-Arena mühelos.

"Zwischen Himmel und Erde" ist die aktuelle Tournee überschrieben und lockt ein weiblich dominiertes Publikum an, das keineswegs nur aus gefühlsbetonten Rentnerinnen besteht. Andrea-Berg-Schnuller und -Haarklammern werden im Foyer bereitgehalten; die obligatorischen, fürs "Gänsehautfeeling" zuständigen Leuchtstäbe fehlen nicht, und erwachsen wirkende Männer - haben sie eine Wette verloren? - scheuen sich nicht, sich blinkende Sterne ins nicht mehr ganz so füllige Haupthaar zu stecken. Ein Mann am Klavier, Backgroundsäuslerinnen, Gitarristen, ein Schlagzeuger, ein Bassist und vier Streicherinnen geben dem bergschen Auftritt eine Opulenz, die gleichzeitig Distanz zum Publikum tunlichst vermeidet. Denn vor allem eins ist es, was Andrea Berg den Fans seit Jahren gebetsmühlenartig nahebringen will: Diese Frau, die ihre Freizeit auch mal im Schweinestall zubringt, soll "authentisch" wirken, soll - höchste Tugend im künstlichen Medienzeitalter - "echt rüberkommen".

Vom ersten Lied an stellt Andrea Berg diese Haltung aus und spricht ihre Lieben vertraulich an, ganz so, als sei eine alte Schulfreundin kurz nach Hamburg gekommen, um mal wieder von sich hören zu lassen. "Schön" und "Freunde" lauten die überstrapazierten Vokabeln, mit denen sie nahezu jeden ihrer Zwischentexte garniert. Natürlich ist man in Facebook-Zeiten längst daran gewöhnt, dass selbst wildfremde Farmer aus Australien zu "Freunden" werden, doch das inflationäre Maß, mit dem Andrea Berg Freundschaftsbänder verteilt, übersteigt alles bislang Dagewesene.

Dass es zu diesem "Wahnsinn" kommt, hat mit der Konzeption des Konzerts zu tun: Andrea Berg beschränkt sich keineswegs darauf, die (rhythmisch etwas monotonen) Lieder ihrer neuen CD oder Klassiker wie "Die Gefühle haben Schweigepflicht" und "Du hast mich tausendmal belogen" vorzutragen. Sie will mehr, sie will ihrem nach großen Gefühlen lechzenden Publikum erklären, was es mit der Liebe auf sich hat. In gut einstudierten Überleitungen erläutert sie "Mythos", "Phänomen" und (natürlich) "Philosophie" der Liebe, erklärt diese zur unerschöpflichen "Energiequelle", die das Dasein zum "Abenteuer" mache. Ganz im Sinne ihres Kollegen Howard Carpendale ("Es geht um mehr, als bei wem ich nachts liege") betont sie pflichtgemäß, dass es nicht um den "Reiz einer Nacht" gehe: "Die Liebe muss ohne Zweifel sein."

Ein Andrea-Berg-Konzert entwickelt sich so zum Klippschulenseminar, dessen Dozentin das "Wesentliche" erkennen, den schönen Augenblick zum Verweilen auffordern will und nicht mehr an die Ankunft des Märchenprinzen glaubt. Das Geheimnis dieses weltanschaulichen Sounds basiert darauf, dass Andrea Berg und ihre wichtigsten Texter Irma Holder und Norbert Hammerschmidt die Liebesgefühlssauce nicht zu dick anrühren. Wo die Scheidungsquoten permanent steigen und mancher Besucher Berg-Konzerte im Lauf der Jahre mit wechselnden Lebensabschnittspartnern besucht haben dürfte, darf der Zuckerguss nicht zu sehr kleben. Während es in den Hochzeiten des Schlagers als opportun galt, ungetrübte Glückserfahrungen ("Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben") zu besingen, gibt sich Andrea Berg als schicksalsgeprüfte Frau, die vom männlichem Treuebruch und von Ängsten zu erzählen weiß: "Ein Bett kann so groß sein ohne dich, mein Freund."

Während das lesende Publikum zu den Liebes- und Glückserklärungen von Richard David Precht oder Eckart von Hirschhausen greift, liefert Andrea Berg Drei-Minuten-Lightversionen von der Realität einer offenkundig gefühlsdefekten Zeit. Singt sie von Enttäuschungen, weiß ihre Gemeinde, wovon die Rede ist. Die weißhaarige, grundsolide wirkende Endfünfzigerin neben mir, die aussieht, als sei sie auf dem Bezirksamt für meinen abgelaufenen Personalausweis zuständig, gerät in größte Wallung, als Andrea Berg trotzig an schmerzhafte Liebesverletzungen erinnert. Die Dame wiegt sich in den Hüften, lässt ihren Oberkörper wie im Tai-Chi-Kurs kreisen und summt alle Liedzeilen mit. Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Die Erfolgsstory der Andrea Berg hat damit viel zu tun. Erklärbar wird sie dadurch noch lange nicht. Denn das Berg-Gesamtpaket setzt sich aus mehreren Elementen zusammen, die belegen, dass es keiner herausragenden Qualifikationen bedarf, um zur Identifikationsfigur der populären Kultur zu werden. Andrea Bergs fragile Stimme hat nichts Herausragendes, allenfalls Unverwechselbares an sich - was sofort zu spüren ist, als sie "Ein Schiff wird kommen" nachsingt und man wehmütig die Wiederauferstehung von Lale Andersen und Melina Mercouri herbeisehnt. Ihr Repertoire an körperlichen Ausdrucksformen ist limitiert und besteht aus immergleichen Handbewegungen und Bühnensprints. So bleibt vor allem ihr legendäres Outfit, in dessen Genuss die interessierten Männer nach der Pause kommen. Hohe Stiefel, kurzer Rock und straffe Korsage sind seit jeher das bergsche Markenzeichen. Eine Nana Mouskouri hätte in seinem solchen Ensemble nicht einmal die Hochzeitsnacht verbracht. Doch auch dieser Bekleidungsstil gehört zum Berg-Gesamtkunstwerk. Nachrückende Konkurrentinnen wie Helene Fischer sollten diese Andrea Berg nicht zu früh abschreiben. Auch mein Taxifahrer auf dem Rückweg war schließlich mit ihrem Werk bestens vertraut.

Unser Autor Rainer Moritz leitet das Literaturhaus Hamburg und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter "Schlager. Kleine Philosophie der Passionen". Zuletzt erschien sein Roman "Madame Cottard und eine Ahnung von Liebe".