Manchmal stelle ich mir vor, dass Glück etwas ist, was der Seele von innen Kontur verleiht. Es schlüpft in einen hinein, es besitzt genau die Form, in der die Seele zur Wahrheit findet, und füllt zur Gänze mit Ruhe und Hingabe aus. Es ist, als ob man zu Hause sei, und trotzdem frei. Und dass es nur darauf ankommt, dies "Etwas" oder den "Jemand" zu finden, um wirklich zu leben.

Mancher findet seine Kontur in einem Menschen. Das sind die großen Lieben, in denen man nur in eine Richtung schaut, in ein Gesicht, und weiß, alles hat einen Sinn. Andere finden die Kontur in einer Musik, in der Kunst; es macht ihnen nichts, dass die Klänge und Kunstwerke alles von ihnen verlangen, sie leben mit den ewig hungrigen Bedingungen, die Kunst an die ihr Verfallenen stellt. Und einige finden die Sättigung ihrer eigentlichen Seele in einem Duft oder wogenden Feldern lila Lavendels.

Meine Kontur ist ein Ton. Wenn der Wind gut steht, wenn die Stadt ruhig geworden ist, so wie jetzt, gedämpft von weißer Stille, treibt er eine Melodie von den südlichen Gewässern zu mir in den Grindel. Es ist das erhabene Rufen der Schiffssirenen. Das tieftönende Locken von Aufbruch, von Abschied, die Elbe hinunter und über das Meer hinaus. Hinaus! Irgendwo dort auf einem hochbäuchigen, gleichmütig-großen Schiff, zieht eine Hand an einem Register, ihr Besitzer ahnt nicht, was er anrichtet. Der Ton zerschneidet die Zeit, die sonst immer Siegerin ist, teilt Schwärme von Möwen, die dunkeläugig über den Stadthäuptern wachen, streift andere lauschende Herzen, trifft mich, spaltet mich und verleiht allem Form, was vorher formlos war.

Vielleicht liebe ich deshalb Hamburg mehr als jeden anderen Ort; vielleicht ist es Zufall, dass ich das Rufen der Schiffssirenen das erste Mal hier hörte und mich zu Hause und dennoch frei fühlte. Ich folge dem Locken der Laute, es zieht mich ans Wasser, ich muss es sehen, wie es davon fließt, es kommt nie an, es findet seinen Sinn in der Bewegung. Ob es im Geheimen nicht anderen auch so ergeht; sie flüchten einmal in der Woche ans Wasser, um zu wissen, wer sie sind?

Das mag eine seltsame Liebesgeschichte für heute sein; doch was wäre Liebe schon, könnte man sie erklären?

Ab aufs Wasser und zu den "Dramaqueens" Musikalisches Ladykabarett im Theaterschiff (U Rödingsmarkt), Holzbrücke 2/Nikolaifleet, Sa 23.1., 19.30 Uhr, Karten zu 27,-/29,-, So 24.1., 18.00, Karten zu 25,-/27,-, T. 69 65 05 60; www.theaterschiff.de

Nina George schreibt jede Woche in LIVE und liebt Hamburg.