Die Kurzgeschichten des Bachmann-Preisträgers faszinieren auch wegen ihrer Metaphern.

Als er 2007 den Bachmann-Preis erhielt, sei das ein "schönes Entree in die Prosa" gewesen, sagte Lutz Seiler in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse. Der erste Roman des 1963 in Gera geborenen und in Wilhelmshorst südlich von Potsdam lebenden Lyrikers lässt zwar noch auf sich warten. Gerade aber ist sein Band "Die Zeitwaage" erschienen. 13 Erzählungen enthält das Buch, auch den Text "Turksib", für den der Autor in Klagenfurt ausgezeichnet wurde. Und sieh an: ein Deutscher, der Kurzgeschichten schreiben kann!

Da ist der Erzähler in "Das letzte Mal". Dem ersten Teil einer "Schachtrilogie", die gut und gerne auch ein Roman hätte werden können. "Es war am 20. November 1976, ich war 13 Jahre alt und hatte meinen Vater das erste Mal im Schach besiegt. Es war das letzte Mal, dass wir miteinander spielten." So hebt der bebende Text an. Das Schachspiel wird zum "Ende der Kindheit". Exemplarisch kann es für die Beziehung zum Vater stehen, an der fast alle Figuren Seilers ein Leben lang zu tragen haben. Fortwährend fühlen sie sich schuldig.

Ob es der neunjährige Junge in "Der Kapuzenkuss" ist, der sich morgens in den Büschen versteckt, um nicht als Erster vor der Schule zu stehen. Oder der Junge in "Die Schuldamsel", der die anderen Kinder beneidet, weil deren Väter ihnen Wurfhölzer für die Jagd nach Kastanien schnitzen. Als er mit dem Knüppel einen Vogel vom Baum schießt, versteckt er ihn noch halb lebend zu Hause im Stromkasten. Dort vergisst er die Amsel und findet sie erst Wochen später tot wieder. Die Figuren Seilers haben die lebensnotwendige Zuversicht, den Glauben an sich selbst nicht von zu Hause mitbekommen.

Die immer autobiografisch motivierten, psychologisch fundierten Erzählungen Seilers sind klassische Short Storys, die durch ihre starken Metaphern gefangen nehmen. Es ist ein Buch der Bilder. Prosa eines Dichters. Manchmal lässt die expressiv-surreale Sprache an den großen Wolfgang Hilbig denken, der wie Seiler als Arbeitersohn zwischen Bergbauhalden groß wurde.

Ein Zitat Hilbigs ist es auch, das dem Text "Die Zeitwaage" vorangestellt ist. Seiler erzählt darin von einem Mann, der nach einer Trennung nach Berlin kommt. Er sucht sich eine leere Wohnung, jobbt in einer Kneipe und fängt an zu schreiben. Schreibt über einen Arbeiter, der jeden Tag in die Wirtschaft kommt, um Cognac zu trinken. Der Arbeiter wird für ihn zum Sinnbild für "das Unangefochtene, für die Fraglosigkeit des Daseins". Seiler erzählt von der Initiation eines Schriftstellers. Den privaten und den gesellschaftlichen Neuanfang lässt er dabei zusammenfallen, ohne dass es aufgesetzt erscheinen würde.

Seine Texte thematisieren gewiss nicht die "seelischen Kollateralschäden des Sozialismus", wie große Feuilletons im Westen gleich wieder konstatieren. Es sind vielmehr die kleinen, ganz alltäglichen Beschädigungen, die sich beiderseits der Mauer ereignet haben. Sie machen Seilers Erzählungen zu einem Erlebnis.

Lutz Seiler: Die Zeitwaage. Suhrkamp, 288 S., 22,80 Euro