Er wirkt charmant wie der letzte Vertreter Österreich-Ungarns. Er überlebte zwei Diktaturen. Und er schreibt Ausnahme-Literatur.

Hamburg. 2002 wurde Imre Kertész der Nobelpreis für Literatur verliehen. Er ist der erste und einzige ungarische Autor, der jemals einen Literaturnobelpreis erhalten hat. Am 9. November wird dieser Ausnahmeschriftsteller 80 Jahre alt.

Sein "Roman eines Schicksallosen", für den er den Nobelpreis erhielt, gehört zweifelsohne zu jenen Büchern, die jeder Mensch gelesen haben sollte. Kertész erzählt darin vom Leben eines 15-jährigen Jungen, der staunend den Alltag und die Vernichtung in Auschwitz erlebt. In einer Umgebung, in der das nackte Überleben zur obszönen Angelegenheit verkommen ist, wirkt der Junge trotzdem oft heiter.

Das ist Kertész' überragender Kunstgriff. Nie zuvor hatte ein Autor es geschafft, das größte anzunehmende Böse mit der Unschuld der Kindheit zu kontrastieren. Für den Jungen bedeutet Auschwitz seine Jugendzeit. Wie jeder andere Mensch bekommt er Sehnsucht nach dieser Zeit. Unfassbar. Doch von Kertész genial zu Wort gebracht.

Imre Kertész hat 13 Jahre lang an diesem autobiografischen Roman gearbeitet. In einer 28 Quadratmeter großen Wohnung in Budapest. Kertész hat sehr einsam gelebt. "Ich konnte so lange daran schreiben", hat Imre Kertész einmal dem Abendblatt gesagt, "weil es im Sozialismus in Ungarn keine Verlockungen gab. Ich habe mein Konzentrationslagerleben unter den Kommunisten weiterleben müssen. Die Lügerei, die Angst, die Freiheitsberaubung, die Geschlossenheit des Systems, das einen verfolgte, das ist alles weitergegangen. Als ich in der Diktatur des Sozialismus lebte, habe ich jeden Tag an Selbstmord gedacht."

Das sagt ein Mann, der 40 Jahre unter der ungarischen Diktatur verbrachte und der seinen Charakter grundsätzlich als heiter, als optimistisch bezeichnet. Der als Junge aus Budapest nach Auschwitz verschleppt wurde und nur unter einem Berg von Leichen überlebte. "In Ungarn hatte der Geist grundsätzlich keine Chance. Ich habe mich nie in diesem Regime, in diesem Überwachungsstaat eingerichtet. Die Ideologie war lebensgefährlich für mich. Jeder Roman bedeutete einen Aufschub vom Selbstmord. Vielleicht habe ich deshalb so lange daran gearbeitet."

Nach der Veröffentlichung 1975 in Ungarn fand der Roman keine Leser. Erst Mitte der 90er-Jahre, als er neu übersetzt auf Deutsch erschien, trat er seinen Triumphzug durch die Welt an.

Kertész ist ein liebenswürdiger, sehr freundlicher Mann. Er wirkt wie ein übrig gebliebener Charmeur der alten österreichisch-ungarischen K.u.k.-Tradition.

Als Kertész nach dem Krieg nach Ungarn zurückkehrte, verdiente er sein Geld als Autor von Musicals und Theaterstücken sowie als Übersetzer aus dem Deutschen. 1960 begann er die Arbeit am "Roman eines Schicksallosen". Es folgten "Fiasko", "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" und "Liquidation", die zusammen die "Tetralogie der Schicksallosigkeit" bilden. Schicksallos meint in Kertész' Sinn, dass man keine Möglichkeit hat, über sein eigenes Leben zu bestimmen. Dass andere Menschen darüber entscheiden. Auch "Protokoll" und "Dossier K" sind Romane, die sich aus Kertész' Autobiografie speisen. Er schreibe keine Autobiografien, sagt Kertész. Literatur ist Komposition, wichtig sei, was man hinzufüge oder weglasse.

Seit dem Jahr 2000 lebt Imre Kertész mit seiner Frau in Berlin. Deutschland, so sagt er, habe eine Kultur, "in der das, was ich schreibe, ein wirkliches Echo findet". Schreiben, das ist für Imre Kertész "gesteigertes Leben". Die Kunst, für Bilder Worte zu finden. Kaum ein Schriftsteller kann es so großartig wie er.