Helmut Krausser erzählt in seinem Episodenroman “Einsamkeit und Sex und Mitleid“ von amourösen Turbulenzen neurotischer Figuren.

Die Romane sind voll von Neurotikern. Sie drängeln sich in der Literaturgeschichte, und nicht nur in der jüngeren. Ulrich, Musils Mann ohne Eigenschaften, war neurotisch bis zum Inzest; und Don Quichotte litt dermaßen unter Zwangshandlungen, dass sein Kampf gegen Windmühlen zum sprichwörtlichen Bild wurde. Andere Archetypen der Weltliteratur - Faust, Hamlet - erlaubten ebenfalls psychoanalytische Deutungen und wurden zu berühmten Fallbeispielen.

In Helmut Kraussers neuem Roman "Einsamkeit und Sex und Mitleid" ist alles eine Nummer kleiner. Die klassischen Tragöden haben gelitten und gebarmt. Wie klein und nichtig sich die Probleme der Großstadtneurotiker moderner Prägung gegen jene ausnehmen!

Aber es sind die wirklichen Probleme, keine dramatisch aufgeladenen (wenn wir Katharsis wollen, gehen wir ins Theater), die in der Gegenwartsliteratur bei Krausser begegnen: Eine im Beruf erfolgreiche Frau ruft sich zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse Callboys und agiert mit diesen pornografische Praktiken aus, ein verklemmter Teenager will erst in der Hochzeitsnacht Geschlechtsverkehr haben, ein anderer wiederum an einem pubertierenden Mädchen gegen Geld sexuelle Handlungen vornehmen. Eine dunkelhäutige Kneipenwirtin, die sich von einem alternden Pädagogen über die Dynastien der römischen Kaiserzeit belehren lässt - anstatt mit ihm zu schlafen, möchte man hinzufügen.

Wer Krausser liest, liest immer den Sex mit. Dass dieses Werk, das Theaterstücke und Romane, aber auch Hörspiele und Gedichte umfasst, um die Themen Tod, Genie und Sex kreist, untersuchten Krausser-Exegeten in einem zu Ehren des Meisters erschienenen Sammelband. Sie werden, was die untersuchten Motive angeht, auch beim bislang letzten Buch Kraussers fündig. Ihm sind die oben eingeführten Personen entnommen: Fahnenflüchtige des großen Glücks, die sich im Kleinen ihre Portion Seelenheil ergattern müssen.

"Einsamkeit und Sex und Mitleid" heißt der Roman, und kein Titel könnte treffender sein. Krausser macht nicht viel Federlesens mit den Aussagen seiner Texte, er ist ein drastischer Beschreiber zwischenmenschlicher Zustände, und kleine, schmutzige Geschichten erzählt er besonders gerne.

"Einsamkeit und Sex und Mitleid" ist ein Episodenroman, in dem sich die Wege der Figuren irgendwann kreuzen. Egal, wann sie das tun: Prekär ist ihre Situation eigentlich immer, und manchmal merken sie das auch.

Da ist der abgehalfterte Bürohengst, der sich in seine jüngere Sekretärin verknallt hat, mit ihr ins Bett geht und eigentlich weiß, dass er sich eigentlich nur ein Stück Gutfühl-Vibrations holen will, während seine Ehefrau - man pflegt eine offene Beziehung - sexuell nur erregt wird, wenn sie mit Gotcha-Kugeln abgeschossen wird. Da ist der rotzig-schlagkräftige Punk, der sich, gerade erst aus der Provinz angekommen, in eine Punkerin verliebt, sie im gemeinsamen Schlafsack beschläft und dann ihre Maus entführt, damit ihr Herz ihm ganz allein gehört. Ein Polizeieinsatz beendet das Drama.

Die Geschichten sind so wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie nur irgendwelche. Kurios nennt die Geschichten und Verwicklungen der Berlin-Bewohner, die da durch Kreuzberg und Charlottenburg stolpern und taumeln, nur derjenige, der keinen Sinn für die Übertreibung hat. Das Leben selbst ist hyperbolisch: Was wir im Übermaß haben, ist die Langeweile. Und deshalb leiden wir an der Gegenwart mit ihren Zumutungen.

Kaum einer fängt dies besser ein als Krausser, der die verwahrloste Jugend durch den Viktoriapark rennen lässt, nur um auf einen durchgeknallten Prediger zu treffen, der den Heranwachsenden in seinem Wahn bestätigt. Am Ende schließt sich der Reigen, der den Vergleich mit Schnitzler nicht zu scheuen braucht, und man stellt überrascht fest: Es ist ja alles noch einmal gut gegangen. Irgendwie lässt es sich doch ganz gut leben mit den Neurosen.

Helmut Krausser: "Einsamkeit und Sex und Mitleid", Dumont, 240 seiten, 19,95 Euro.