Simone Young ehrte den Kiez-Klub. Vorschau auf die Jubilare 2010: Die Philharmoniker feiern nicht nur Musiker wie Chopin und Schumann.

Hamburg. So richtig angekommen in Hamburg ist Simone Young vielleicht erst vorgestern, zu Silvester. Bei der allerletzten Zugabe des "Salut"-Konzerts mit dem Philharmonischen Staatsorchester, das sie am Donnerstag in der ausverkauften Laeiszhalle dirigierte, spielte sie sich auf ganz unerwartete Weise mitten ins Herz der Stadt.

Dabei ist weder das Stück von nennenswerter Qualität, noch war die Stimmung im Saal auch nur ansatzweise vergleichbar mit der, die dieselbe Musik, aus abertausend Kehlen gesungen, in brenzligen wie feierlichen Situationen im Millerntorstadion entfacht. "You'll Never WalkAlone", diesen ordentlich pathetischen Schmachtfetzen, diese Mutter aller Fußballhymnen, bot die hamburgische Generalmusikdirektorin anlässlich des 100. Geburtstags des FC St. Pauli von 1910 e. V. im neuen Jahr. "Vielleicht das Allerbeste zuletzt", versprach die Dirigentin in ihrer launigen Anmoderation.

Während die Musik vor sich hin wogte, schwenkte Simone Young einen Fan-Schal, mit dem sie anschließend das Dirigentenpult dekorierte. Klingt vielleicht peinlich, war aber authentisch und charmant. Zwischendurch verschwand die Tuba unter der Vereinsfahne, manche Orchestermusiker pfiffen auf ihre Frisur und behüteten ihre feinnervigen Köpfe mit Pauli-Kappen und -Mützen. Es können nicht allzu viele echte Fans in der Laeiszhalle gesessen haben, denn zum Chorgesang regte sich keine Stimme; aber die Geste der vermeintlichen Hochkultur gegenüber dem Underdog-Klub (Selbstauskunft: "non established since 1910") war grandios - und grandios liebenswürdig.

Zuvor hatten die Philharmoniker unter ihrer gut gelaunten Chefin das alljahresendzeitlich fällige Klangpanorama künftiger runder Geburts- und Todestage aus der Musikwelt ausgebreitet. Dabei geriet die erste Hälfte für den Anlass allzu ernst und etwas lang; nach der beschwingten Ouvertüre zu "Donna Diana" von Emil Nikolaus von Reznicek - der im Saal mehrheitlich vertretenen älteren Generation noch durch die Fernseh-Rätselsendung "Erkennen Sie die Melodie?" im Langzeitgedächtnis - folgten wehmütige und schattenreiche Piècen von Aulis Sallinen über Alban Berg und Arvo Pärt bis zu Robert Schumann. Bergs diszipliniertes Leidensgerase für ganz groß besetztes Orchester ist weder lustig noch besinnlich, sondern strahlt noch immer die ganze Verstörungskraft der Moderne aus. Auch Pärts schwierig zu spielende, beseelte mechanische Musik eignet sich wenig als Partyanheizer. So sah mancher Konzertbesucher in der Pause aus, als hätte er den letzten Vormittag des alten Jahres doch lieber anderswo verbracht.

Nach der Pause aber schwenkte das Programm mit Verve in die Zielgerade silvestriger Vorfreuden ein. Die Stücke waren kürzer, schmissiger, und wer einst Ingo Metzmachers legendäre "Who's Afraid Of 20th Century Music?"-Silvesterkonzerte genoss, geriet unversehens nah an ein Déjà-vu-Erlebnis: Alle Stücke entstammten dem 20. Jahrhundert und waren bestens geeignet, Vorurteile über die ach so schwierige zeitgenössische Musik abzubauen. Die "Wiener Polka" von Kurt Schwertsik verfing sich mit hübschen Widerhaken im Gehörgang, Prokofjews Ballmusik aus "Krieg und Frieden" war knifflig- schwungvoll und süffig-pompös, Luciano Berios "Entrata" (eine deutsche Erstaufführung!) hielt mit vibrierender Spannung den Saal in Atem, und Rolf Liebermanns Ouvertüre zu "Leonore 40/45" machte Lust auf mehr Liebermann in Hamburg. Selbst der gloriose Rausschmeißer, Miklós Rózsas schwerst von Ravels "Bolero" inspirierte "Parade der Wagenlenker" aus dem Film "Ben Hur", schimmerte und funkelte wie später am Abend die Raketen am Himmel über der Alster.

Das Orchester - die Herren im schwarzen Anzug mit bunter Krawatte nach Wahl, die Damen in ihren farbenfrohsten Festgewändern - spielte ausgezeichnet. Die vielfältigen Registerwechsel zwischen filigranem Klang und vollfettem Sound meisterten sie nicht nur mit der ganzen Routine der Orchestergrabenkämpfer, sondern mit Geist und Engagement. Und Simone Young hatte sich auf diesen Kehraus-Spaß augenscheinlich mit derselben Sorgfalt vorbereitet wie auf einen Opernabend. Auch die Partitur-Ausgrabungen ihrer Dramaturgin Kerstin Schüssler-Bach hatte sie souverän im Griff.

Sollte möglicherweise insgeheim und unerkannt doch ein Offizieller des FC St. Pauli im Publikum gesessen haben, dann dürfte die Ehrenmitgliedschaft für Simone Young fast schon beschlossene Sache sein.