Am 7. Januar erhält der Schweizer Schriftsteller Roman Graf für seinen Debütroman “Herr Blanc“ den Hamburger Mara-Cassens-Preis.

Hamburg. Herr Blanc ist eine Wassergeburt. Gewissermaßen. Er ist auch - im Wortsinn - eine Kopfgeburt, natürlich, als literarische Figur. Aber Roman Graf, der junge Schweizer Autor Leipziger Schule, hatte den entscheidenden Schreibimpuls unter der Dusche. Am Abend. Obwohl Roman Graf, der besonnen, nachdenklich und mit melodischem Schweizer Zungenschlag spricht, sonst immer vormittags schreibt. "Aber unter der Dusche waren die ersten zwei Sätze plötzlich da, in meinem Kopf, ich hab gleich gewusst, was für ein Mensch das ist. Sogar der Name war sofort da, ich wusste einfach, ich kenne ihn."

Ihn, Anton Blanc, der aber auch im Roman fast durchgehend Herr Blanc genannt wird. Was einerseits eine gewisse Distanz belässt - ein Begriff, der in Roman Grafs Schaffen ohnehin eine wichtige Rolle spielt -, andererseits auch die schrullige, kleinbürgerliche Sortiertheit erzählt, in der Herr Blanc - ja, was eigentlich? Lebt? Sein Leben verpasst, muss man wohl sagen.

Herr Blanc, nach dem nun auch Grafs Debütroman heißt, für den er im Januar mit dem renommierten Hamburger Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wird, ist ein Mann, der wohl schon als Kind ein Erwachsener war. Ein ernsthafter, unspontaner Mensch, der vor allem inwendig existiert, einen "Gedankenarbeiter" nennt ihn Roman Graf, "eigentlich ganz ähnlich wie ein Schriftsteller". Das Leben von Herrn Blanc besteht mehr oder weniger aus einer Abfolge alltäglicher Rituale. Die Zeitungen lesen, Trauben essen, gelegentlich etwas Kochschokolade naschen, ohne entscheidende Ausbrüche, wenn man von einem (unfreiwilligen) Studienaufenthalt in Cambridge absieht, bei dem Herr Blanc in jungen Jahren seine große Liebe Heike kennenlernt. Es wird für ihn die einzige Zeit von emotionaler Ausgelassenheit, von Freiheit und Glück bleiben, denn Herr Blanc lässt Heike in Cambridge zurück, für "gute Anstellungsmöglichkeiten" in der Schweiz. Einzahlen in die Arbeitslosenversicherung, montags und freitags Essen bei der Mutter, und will die Mutter zur Abwechslung ein Salbeiblatt auf das Fleisch spicken, fragt sie vorher um Erlaubnis.

Eigentlich müsste "Herr Blanc" ein trauriges Buch sein, eine frustrierende, schlimmer noch: eine langweilige Geschichte. Dass es das nicht ist und dass Herr Blanc, dieser mutlose Misanthrop und ängstliche Einzelgänger, weder bemitleidenswert ist noch auf effektheischerische Weise lächerlich, dass er stattdessen als eine - erstaunlicherweise nicht unsympathische - eidgenössische Melange aus manch kauziger Loriot-Figur, dem Besserwisser Stromberg und dem norwegischen Eigenbrödler Elling daherkommt, ist das Verdienst seines Schöpfers. Herr Blanc scheitert am Übermaß der Möglichkeiten, indem er sich für keine entscheidet. Roman Graf aber entscheidet sich für die Innerlichkeit seines Protagonisten und damit auch gegen eine eigentliche Handlung. Graf lässt seinen Antihelden - mit großen Zeitsprüngen - einfach sein, existieren, erdulden. Sich selbst, seine aufopfernde, alleinerziehende Mutter, seine späte (Zweck-)Ehefrau Vreni, eine freundliche Betreuerin im Altenheim. Und Heike, in seinen Gedanken immer wieder Heike, mit der wohl alles anders geworden wäre, wenn Herr Blanc sich nur für sie entschieden hätte. Und nicht für die wohlgeordnete Schweiz, die überlegene "Schweizer Qualität", der in Roman Grafs Roman auch als zwiespältige Lebensqualität durchaus eine entscheidende Rolle zukommt.

Graf ist in Winterthur geboren, der Roman jedoch ist zu großen Teilen während eines Schreibaufenthalts in Polen und in seiner Wahlheimat Leipzig entstanden, wo er das Literaturinstitut besucht hat. Die Distanz zur Heimat war wichtig, notwendig sogar: "In der Schweiz ist alles so zugekleistert mit Kindheit, Erfahrungen, Erinnerungen, da wird man fast erdrückt." Anders als in Berlin oder Leipzig sei es in der Schweiz schwierig, als Künstler zu leben, findet Roman Graf, der dort schon alles Mögliche war, nur eben kein Künstler: Er hat eine Ausbildung als Forstwart beendet, von der er "schon am ersten Tag wusste, das es nicht das Richtige war". Er hat als Behindertenbetreuer an einer Schule gearbeitet und schließlich als Journalist.

Als er das Schreiben jedoch einmal für sich entdeckt hatte, kündigte er die feste Redakteursstelle. Ohne zu wissen wofür und wohin. "Ich brauchte diese Unbedingtheit. Aber ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich am Leipziger Literaturinstitut nicht genommen worden wäre", sagt Roman Graf. Obwohl man dort "eigentlich nichts" lerne: "Man spricht nur ständig über Texte." "Kriterienkatalog, Mittel, Verfahren" sind Vokabeln, die der Autor durchaus auch benutzt, wenn er vom Schreiben erzählt. Vor allem aber ist der Prozess für ihn "ein Bewusstseinszustand, in dem ich versuche, einen Teil des Unterbewusstseins anzubohren".

Ein fruchtbarer Austausch, wie sich nun herausstellt. Roman Graf, der Debütautor, gehört zu den wenigen Schriftstellern, die vom Schreiben leben können, von Stipendien, Preisgeldern und Lesereisen. Noch. Was einerseits mit seinem bescheidenen Lebensstandard zu tun hat ("Ich lebe wie ein Student"), andererseits damit, dass es für Autoren unter 40 eine ausreichende Anzahl von eben jenen Förderprogrammen und Preisen gibt. Später wird es schwierig. Roman Graf ist sich dessen bewusst: "Zu viel Abhängigkeit vom Literaturbetrieb ist nicht gut", findet er. "Irgendwann mit 40 oder 45 braucht man auch einen Leserkreis." Jetzt ist er 32.

Was er sich von dem Mara-Cassens-Preisgeld gönnt, mit 10 000 Euro immerhin die höchstdotierte Auszeichnung für ein deutschsprachiges Romandebüt? Die Antwort verrät - trotz Leipziger Exil - dann doch den realistischen Schweizer: "Meinen Lebensunterhalt. Und etwas für die Altersvorsorge."

Roman Graf bekommt für "Herr Blanc" (Limmat Verlag, 220 S., 22,80 Euro) am 7.1. im Literaturhaus den Mara-Cassens-Preis.