In Ulla Hahns Erzählung veranstalten die Dichter des Nordens zum Schluss ihre große Lesung auf einem Alsterdampfer.

Die Schriftsteller mit den verrätselten Namen - und mit ihnen die Ich-Erzählerin, eine Germanistik-Studentin, und ihr Friedrich - fahren über die Außenalster und lesen, die Hamburger lauschen vom Ufer den Texten und der Musik. Die urkomische Szene kulminiert, als Hans Albers und Heinz Erhardt dazustoßen.

Dies ist unser dritter und letzter Auszug aus "Alsterlust" von Ulla Hahn. Die Rätselnamen der Dichter lösen wir morgen auf den Kulturseiten auf.

Es blieb lange hell an diesem späten Maiabend, alle durften noch einmal lesen, dann legte sich die Band ins Zeug, die Höhepunkte nahten, die Stars. Das Boot nahm Kurs auf die andere Seite, St. Georg entgegen. (...) Jetzt war das Ufer bunt von Menschen, kaum einer über dreißig, alle, soweit ich das erkennen konnte, verrückt angezogen und frisiert.

"Cool!" Friedrich gab mir einen Rippenstoß. "Die Rap-Szene Hamburgs! Wo bleibt denn Singles? Der ist doch jetzt dran!"

Der aber war nirgends zu sehen. Nicht mal auf dem Klo konnten die Kollegen ihn auftreiben. (...) Am Ufer packten die Ersten ihre Sachen zusammen. Die NDRler taten mit "Hamburg, meine Perle" ihr Bestes, sie zu halten; Wolfgang Amadeus setzte sich mit einem strahlenden Lächeln für den Erzbischof Werner noch einmal ans Keybord und hämmerte "Exultate jubilate", und auf der Kennedybrücke glaubte ich Lotto King Karl zu erkennen, der sich Notizen machte und außer Rand und Band "Exultate jubilate" brüllte. Vielleicht die neue Hymne für den HSV? Aufheulen und jubilieren? Passt doch! Hoffentlich!

"Wir warten auf euch", versuchten die NDR-Aktivisten die Toten Ärzte zu imitieren, und Hein Neihe bestellte sich - schließlich ist im Ausland auch der Düsseldorfer ein Kölner - "Üwerall jitt et Fans vum FC Kölle"; wir beide sangen als Einzige mit. Höchste Zeit für die nächste Lese-Nummer.

Plötzlich brach am Ufer ein infernalisches Kreischen und Gestikulieren aus, das sich auf das Bootsdach konzentrierte.

"Da! Da ist er!", schrie Fichte, der sich mit Vesper in den offenen Bug des Bootes abgesetzt hatte. "Da oben!" Wir stürzten nach hinten, andere hängten die Köpfe zu den Fenstern hinaus.

Ein merkwürdiges Geflecht auf dem Bootsdach, eine Art Mastkorb, hatte mich schon beim Einsteigen verwundert. Gotthold Ephraim stand da oben in weißer Hose, rot-weiß geringeltem T-Shirt, schwarze Kappe mit Totenkopf verkehrt rum auf den fettigen, schulterlangen Strähnen. Dreimal rhythmisches Aufstampfen, die Band im Schiffsbauch brach in einen schrägen Tusch aus.

Stille. Zu Wasser und zu Lande. Rapper Singles in den Farben der Hansestadt, scharf gestochen gegen den blauen Sommerabendhimmel, hob das Mikro an

den Mund:

"Vor grauen Jahren lebt ein Mann in Osten, yeah / der einen Ring von unschätzbarem Wert / aus lieber Hand besaß, besaß, besaß, o Mann / Der Stein war ein Opal, was sag ich da, war ein Opal, / der Stein aus lieber Hand, o Mann. / Der hundert schöne Farben spielte! Wow! / Und hatte die geheime Kraft, vor Gott! /

vor Gott! vor Gott! und Halleluja, Halleluja, Amen! / und hatte die geheime Kraft, vor Gott / - Bitte alle! - / vor Gott, vor Gott - o Yeah! / und Menschen, ja, o Mann, und Menschen! Wow! / so angenehm zu machen, Wow! / wer in dieser Zuversicht ihn trug! O Yeah! Yeah! Jesus!"

Die Dichter im Boot, die Zuhörer an den Ufern, keinen hielt es auf dem Hintern. Nie hatte man die "Ringparabel" gehört wie hier und jetzt, auf diesem Festival der "Alsterlust". Vom Autor persönlich vorgetragen. Es klatschten in die Hände, stampften und schrien: Wow und Yeah, Bürgermeister und Kultursenatorin, Erzbischof und Altbürgermeister, Buchhändler, Bauer und Fischer, während Singles unbeirrt die Geschichte von den drei ununterscheidbaren Ringen, Symbol der drei großen Religionen, zu Gehör brachte. Eine Pause machte. Lange. Bis tiefe, nur von gelegentlichen Vogellauten untermalte Stille eintrat. Singles nahm die Totenkopf-Kappe ab:

"Es eifre jeder seiner unbestoch'nen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag /

Zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut / mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott /

Zu Hülf!"

Sekundenlanges ergriffenes Schweigen auf beiden Uferseiten. Dann brach ein unbeschreiblicher Jubel los. "Gotthold! Gotthold!", skandierte die Rap-Szene. HSVler und St. Paulianer schwenkten Fahnen und Schals, Muslimas nahmen ihr Kopftuch ab, winkten Singles zu und banden es wieder fest. Die E-Gitarren im Schiffsbauch heulten wie Legionen junger Katzen. Singles schwang sich zurück ins Boot. Glückwünsche zu seiner Performance von allen Seiten. Bis auf einen. Stockklop. Er würde es schwer haben nach diesem furiosen Auftritt. Fast tat er mir leid, als seine ein wenig näselnde Stimme einsetzte:

"Schön ist Mutter Natur deiner Erfindung Pracht / Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht / Das den großen Gedanken /Deiner Schöpfung noch einmal denkt."

(...) Stockklop war noch mittendrin, als sich ein flotter Segler näherte, motorverstärkt, obwohl das streng verboten war. Hielt direkt auf die "Alsterlust" zu. Sah ich richtig? Der eine trug Matrosenkluft, spielte Akkordeon und quäkte in ein Mikro, das ihm am Kragen steckte, und der kleine Dicke neben ihm, wer was das doch gleich? Heinz Erhardt! Ein Hamburger? Dieser Blödelbarde aus Großmutters Zeiten ein Fischkopp? Nach Kräften unterstützte der seinen Kollegen. "La Paloma, ohe" , raunzte Hans Albers, schmetterte Heinz Erhardt, und das Ufer johlte mit.

"Und so bauten wir Hütten der Freundschaft" , verkündete Stockklop und half den beiden Freibeutern unter frenetischem Beifall großmütig aufs Boot hinauf. "Noch'n Gedicht!", quietschte der Komiker, schubste Morst beiseite und riss Kesbroc das Mikro aus der Hand. "Dichter!", schrie er. Stockklop hielt sich die Ohren zu. Der kleine Dicke ließ sich nicht beirren.

"Es soll manchen Dichter geben / Der muss dichten um zu leben. / Ist das immer so? Mitnichten. / Manche leben um zu dichten!"

Geheul, Pfeifen, "Zugabe!"

Stockklops Miene verfinsterte sich, auch Morst zog ein saures Gesicht. Albers rettete die Situation: "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" , röhrte er mit Raufboldstimme und stapfte vorwärts, der Bischof legte ihm die Arme auf die Schultern, der Altbürgermeister folgte der Kirche, Erhardt packte den vornehmen Blankeneser Klassiker, einer nach dem andern legten wir einander die Arme auf die Schultern, Polonaise durchs Boot über Tisch und Bänke, dem Akkordeon hinterher, "ob du'n Mädel hast oder auch keins." Der Bischof kriegte allerhand zu hören heute Abend.

Es dämmerte. Der offizielle Teil des Festes ging, trotz der unvermuteten, überaus gelungenen Einlage, seinem Ende entgegen.

Ulla Hahn , aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Promotion in Germanistik als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, dann bis zum Jahr 1989 als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Ihr lyrisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Seit 1991 veröffentlicht sie Romane, zuletzt 2009 "Aufbruch". Sie lebt in Hamburg.

Die Erzählung "Alsterlust" mit Illustrationen von Klaus Fußmann, Friedel Anderson und Till Warwas wurde herausgegeben von Wilfried Weber (Buchhandlung Felix Jud, Neuer Wall 13). Das Buch kostet in der auf 1200 Exemplare limitierten Erstausgabe 38 Euro, die Vorzugsausgabe mit einem farbigen, signierten Linolschnitt von Klaus Fußmann 248 Euro.