Die Schweizer Autorin erzählt in ihrem autobiografischen Werk von Reisen in die innere wie auch die äußere Welt.

Als Ilma Rakusa, 1946 in der Slowakei geboren und seit 1951 in Zürich lebend, sechs Jahre war, sprach sie neben Slowenisch, Ungarisch und Italienisch auch Deutsch. Aus "Zweckmäßigkeit" pumpte sie zudem Schwyzerdeutsch in ihren Kopf, aber der Dialekt "drang nicht in mich ein. Selbstgespräche führte ich auf Hochdeutsch, in der Sprache der Bücher." Das Schriftdeutsch wurde ihr nach "Kofferkindheit" und dem "Herumzigeunern" mit den Eltern, die mehrfach umzogen, zum "Fluchtpunkt und Refugium. Hier wollte ich mich niederlassen, hier baute ich mir mein Haus."

So wurde die Staatenlose, längst Schweizerin, zu einer europäischen Intellektuellen. Und zu einer Schriftstellerin, die jüngst in Basel mit dem Schweizer Buchpreis geehrt wurde.

Ihre aktuelle Veröffentlichung "Mehr Meer. Erinnerungspassagen" ist ein Buch in der losen Form einer Autobiografie, aber auch gefüllt mit Gedichten, Dialogen, Impressionen, Bilanzen. Die Tochter einer ungarischen Mutter und eines slowenischen Vaters fahndet ihren Lebensstationen nach, überhöht die Nacherzählung ihrer Kindheit und Jugend aber auch.

Nach einem Unfall beim Schlittenfahren litt sie unter schwerer Migräne, musste auf Geheiß der Mutter jeden Tag zwei Stunden still liegen und ohne Außenreize auskommen. Die Reise ging nach innen: ins Kopfkino, mit Sprachfetzen aus Nachbarräumen, mit Fantasien, denen sie sich im "Siestazimmer" überließ, und mit den Stoffen der Bücher, die sie gelesen hatte. "Plötzlich war das Zimmer belebt. Mit Tieren und anderen Wesen, schon hörte ich sie flüstern. Jedes Mal von Neuem erlebte ich die Verwandlung meiner Camera obscura in eine Wunderkammer und mein Alleinsein als Glück."

Mit dem Aufwachsen kamen weitere Erfahrungen hinzu, die ihre poetische Wahrnehmung schärften. Andere Menschen, Reisen, die Sexualität. Sie will alle Empfindungen festhalten - bis zur Tristesse osteuropäischer Städte im Realsozialismus, dem Druck der Diktaturen, den sie vor allem in der Sowjetunion spürt. Aber auch dem Meer, das sie liebt wegen seiner Weite, dazu Erlebnisse der Studienzeit in Paris und Leningrad, das Musizieren mit anderen. Ilma Rakusa spielt Klavier und Orgel, ursprünglich wollte sie Musikerin werden.

Für die Autorin beginnt und mündet die Welt in Sprache, eine geradezu körperliche Erfahrung. In Georgien lauscht sie dem Toast eines Studenten: "Gurgelnd und kehlig und blumig rann die Sprache dahin, und ohne die Worte zu verstehen, wusste ich, dass sie poetisch waren." Wenn es um die Schweiz geht, wird die höfliche Autorin jedoch ein wenig gallig.

Die Zürcher Kindheit war ein enges Fristen. "In dieser Begrenzung herrschte pedantische Ordnung. Der Rasen säuberlich gemäht, die Teppichstangen blank, Vorschriften regelten das Schließen des Haustors, die Reinigung des Plattenwegs, die Nachtruhe (ab 10 Uhr abends war Lärm, das heißt auch Musik, verboten). Meine Eltern hielten sich strikt daran, als müssten sie ihre Schweiz-Eignung beweisen." Später heißt es: "Fassung. Fassade. Das gehörte zusammen." Eine assimilierte Schweizerin als Nestbeschmutzerin? Die Juroren sahen das zum Glück nicht so.

Ilma Rakusa: "Mehr Meer. Erinnerungspassagen." Droschl, 320 S., 23 Euro