Schauspieler mit Potenzial, gute, aber bislang noch keine herausragenden Inszenierungen - so zeigt sich das “neue“ Thalia-Theater.

Hamburg. Rund 100 Tage ist Joachim Lux jetzt als Intendant des Thalia-Theaters im Amt. Vieles hat sich verändert, seit Lux' Vorgänger Ulrich Khuon die Stadt Richtung Berlin verlassen hat. Ein beinahe komplett neuer Spielplan steht auf dem Programm, ein beinahe komplett neues Ensemble präsentiert sich den Zuschauern. Nach neun Premieren im großen Haus und neun in der Gaußstraße hat sich gezeigt, dass es Schauspieler mit viel Potenzial zu entdecken gibt. Regisseure wie Jan Bosse, Nicolas Stemann, Luk Perceval oder Jette Steckel prägen mit kräftigen, modernen Handschriften das künstlerische Profil des Hauses. Aber eine sinnlich mitreißende, emotional berührende und ästhetisch überragende Inszenierung - zugegeben, eine Kombination die so selten eintritt, dass sie olympiaverdächtig wäre - ist bis jetzt noch nicht darunter. Oder etwas, das dem nahekommt.

Man sagt, die wichtigste Saison für einen neuen Intendanten sei die zweite. In der ersten präsentiert man einen Strauß von Ideen. In der zweiten muss man sich bewähren. Muss nicht nur zeigen, was man kann, sondern beweisen, dass man etwas kann. In der ersten Spielzeit jedoch gewinnt man die Herzen des Publikums. Überschwänglich, routiniert, geistreich oder fantasievoll. Welche Ideen und Pläne aber konnte der neue Intendant bisher realisieren? Hat er das umsetzen können, was er vorhatte?

Joachim Lux zögert. "Wir sind extrem mutig gestartet. Mit den 'Kennedys', der 'Marx Saga', den 'Kontrakten des Kaufmanns' haben wir nicht auf eine sichere Bank gesetzt, wie es beispielsweise mit Stücken wie 'Ein Sommernachtstraum' oder 'Nora' der Fall gewesen wäre. Wir wollten uns am Anfang mit einer gewissen Klarheit positionieren. Man muss herausfordern. Das finde ich richtig. Wir haben sehr viele neue Inszenierungen gezeigt, extrem viele. Mir war wichtig, schnell ein vielfältiges Programm anbieten zu können. Insofern bin ich sehr zufrieden."

Dann kommt das "Aber": "Natürlich ist es hier wie überall. Die Zuschauer rennen in 'Othello', 'Die Räuber' oder 'Nathan', und die Gegenwartsstücke und -projekte haben es schwer." Zuschauermäßig.

Das Wichtigste sei, so Lux, dass man durchgängig oder weitestgehend die Qualität erreichen und halten kann, die man sich vorgenommen habe. "Auf Augenhöhe mit den eigenen Ansprüchen sind wir bisher mit jeder Produktion gewesen - unabhängig davon, ob man die Inszenierung geschmacklich mag." Der Zuspruch der Zuschauer sei gut, sagt er. Die Kritiken waren es nicht immer. "Gemischt" würde den Tenor treffen.

Lux lobt sein Ensemble, lobt dessen Zusammenspiel und dessen Können. "Das kann man ja vorher nur erhoffen oder erahnen. Man weiß es erst, wenn man die Schauspieler zusammen spielen sieht." Neben den bewährten Künstlern, die im Ensemble geblieben sind, konnten einige so auffallen, dass man mehr von ihnen sehen möchte. Bruno Cathomas etwa oder Bibiana Beglau, Karin Neuhäuser, Bernd Grawert oder Patrycia Ziolkowska. Aber gerne auch andere. Jens Harzer, ein großes Talent, hatte es leider schwer, in Jan Bosses illusionsarmem "Peer Gynt" zu überzeugen. Und gewiss werden sich auch aus dem jungen Ensemble wieder Publikumslieblinge bilden, vielleicht Mirko Kreibich oder Jörg Pohl. So wie es vor Jahren Maren Eggert, Peter Jordan und Susanne Wolff taten. Und unter Jürgen Flimm Stefan Kurt, Jan Josef Liefers oder Annette Paulmann.

Was aber, wenn Qualität und Anspruch stimmen, einige der Inszenierungen trotzdem mehr aus Konzepten als aus sinnlichem Spiel oder psychologischer Durchdringung von Charakteren bestehen? "Kopfig" sei vieles, was man bisher auf der Bühne des "neuen" Thalia-Theaters sehen konnte, war ein viel genannter Vorwurf, "Dramaturgentheater".

Soll heißen: Die Regie hat sich viel, sehr viel ausgedacht. Zu sehen, spüren oder erkennen war es nicht immer. Manchmal würde man sich als Zuschauer lieber vom Spiel mitreißen lassen oder nur staunend davor sitzen, anstatt trocken anzuerkennen: Stimmt, so kompliziert geht's zu in der Welt.

Wer den "Nathan" am Thalia sieht, bekommt das Stück nicht erzählt, sondern muss sich durch Erkenntnisebenen durchkämpfen. Auch mit Shakespeares "Richard II" sollte man sich auskennen, bevor man die tolle Solo-Leistung Sven-Eric Bechtolfs verfolgt. Dafür bekommt man in den "Kennedys" nur Geschichten, die man schon kannte, würde aber gerne etwas über Abhängigkeiten oder Persönlichkeitsbrüche schauspielerisch zu sehen bekommen. Stattdessen rotiert die Drehscheibe. Und man sieht viel zu oft Bildprojektionen.

Nun gut, auch Regie muss sich ausprobieren. Joachim Lux entgegnet: "Nathan ist immer gut besucht. Die Zuschauer mögen dieses Gesamterlebnis. Sie lieben auch Jens Harzer als Peer Gynt. Ich persönlich finde die Aufführung auch sehr sinnlich. Ich habe noch nie zuvor den Text so gehört. Es gibt ja Erlebnisse, die durch den Kopf ins Herz zielen. Aber auch ich denke darüber nach, wie man den Schauspielern mehr Chancen geben kann, als Verführer unterwegs zu sein. Die Sehnsucht, Schauspieler in Rollen zu sehen, über die sie sich präsentieren, darstellen und beim Publikum durchsetzen, verstehe ich. Da zeigen wir auch noch was."

Wie geht's weiter in dieser Spielzeit? "Natürlich mit vielen Premieren. Ende Januar bis Anfang Februar finden zum ersten Mal die Lessing-Tage im Thalia statt, ein Themenfestival mit einer Langen Nacht der Weltreligionen, der Vergabe des Lessing-Preises und vielen Gastspielen, darunter auch Claus Peymanns "Nathan", Stephan Kimmigs "Öl" und Karin Beiers "Das goldene Vlies". Der Titel des Festivals: "Um alles in der Welt". Um was sonst geht's im Theater?