Unterhaltsamer Parforceritt durch die Musikgeschichte - von Tschaikowskys Klavierzyklus bis zum Jazz.

Hamburg. Die Art, wie ein Pianist auf der Bühne den Weg zum Flügel nimmt, verführt zu Rückschlüssen auf mögliche musikalische Eigenheiten. Nikolai Tokarev geht in rechten Winkeln. Wie auf vorgezeichneter Bahn läuft er stracks nach rechts bis nah an den Bühnenrand, dann 90 Grad nach links. Verbeugung, und ab auf den dick gepolsterten Klavierhocker. Das hört sich starr und soldatisch an, aber Tokarevs Gang federt, trotz der Eckigkeit. Und so läuft er zu jedem neuen Stück auf die Bühne. Zeig mir, wie du auftrittst, und ich sage dir, wie du spielst?

Zum Solodebüt in Hamburg am Mittwochabend bei ProArte in der Laeiszhalle hatte Tokarev, Pianist aus Moskau in der dritten Generation, drei Russen aufs Programm gesetzt. Er begann mit Auszügen aus Tschaikowskys Klavierzyklus "Die Jahreszeiten". Der "Februar" klang noch wie die Bestätigung der ersten Gang-Diagnose: Tokarev nahm die Musik sportlich, der Steinway klang unter seinen Händen wie tiefergelegt. Doch das Vorurteil vom testosterongesteuerten Pianistenroboter geriet rasch zum Einsturz. Tokarev erwies sich als Virtuose, dem vor dem Liedgesang und auch vor meditativer Ruhe nicht bange ist. Im "Oktober" verlangsamte er das Spiel zu extremem Rubato, wobei die innere Logik seines Spiels immer präsent blieb. Auch Tschaikowskys "Dumka" gab er schlichte melancholische Innigkeit.

Den Funkenflug auf den Tasten bewahrte sich Tokarev bis nach der Pause auf. Auch wenn die von einem Freund der Familie Tokarev angefertigte Klavierfassung von Mussorgskis "Eine Nacht auf dem kahlen Berge" kaum die dämonische und dynamische Wucht des für Orchester geschriebenen Originals erreichte, rief der junge Pianist mit rasanten Sprüngen und federndem Gehämmer auf der Tastatur manche Geister auf den Plan. Disziplin und Furor rangen aufs Schönste um die notwendige Balance.

Die dem jungen Pianisten zugeeignete "Suite-Fantasie für Klavier über Themen aus der Ballettmusik 'Schwanensee'" von Alexander Rosenblatt ist ein unterhaltsamer Parforceritt durch die Musik- und Gattungsgeschichte von Tschaikowsky bis zum Jazz. Stellenweise klang es, als hätten die Hurenhäuser, in denen einst der Ragtime erfunden wurde, nicht am Mississippi gestanden, sondern an den Ufern von Wolga oder Don. Nach dem fabelhaft kraftvoll gespielten Allegro im 5/4-Takt - Tokarev klebte sein schweißnasses Hemd längst malerisch am Körper - ging es über gewagte Jazz-Modulationen zu einem Kehraus, der als pianistisches Blitz- und Donnerwetter großen Eindruck machte und viel Spaß. Mit drei wunderbaren Zugaben - Rachmaninow, Scarlatti, Bach-Siloti - schenkte Tokarev seinem begeisterten Publikum Momente des Hörens in die Stille.