Hamburg, 1956. Ein junger Mann, gerade aus dem Knast entlassen, erhofft sich hier freundliche Aufnahme. Doch die Realität ist nicht so.

Hamburg. Matthias Gretzschel über den letzten Roman der "Deutschen Chronik".

Walter, der junge Mann, der Mitte der 50er-Jahre in Hamburg eintrifft, hat einiges hinter sich. Acht Jahre Bautzen, wo er aus politischen Gründen im "Gelben Elend", dem berüchtigten DDR-Knast, wegen angeblicher Spionage inhaftiert war. Nun ist er im Westen angekommen, bei der Mutter, die man in einer Art Sippenhaft gleichfalls verurteilt, aber früher entlassen hatte. Sie hat in der Bundesrepublik bereits ein neues Leben begonnen. "Herzlich willkommen" heißt der Roman, mit dem Walter Kempowski 1984 seine neunbändige "Deutsche Chronik" abschloss. Schon der Titel stimmt auf den ironischen Grundton des Buches ein: Walter ist nämlich in Hamburg ganz und gar nicht herzlich willkommen. Mit seinem Auftauchen stört er die 50er-Jahre-Idylle, in der man sich hier längst eingerichtet hat.

Es ist die Zeit, in der sich die Menschen über "echten Bohnenkaffee" freuen, weil sie den Geschmack von Ersatzkaffee noch auf der Zunge haben. Es ist auch die Zeit des Wirtschaftswunders, in der man Nazi-Jahre und Krieg gründlich vergessen möchte und froh darüber ist, nicht "drüben" zu leben, wo die Russen sind und die Kommunisten, von denen man möglichst nichts hören will. Da stört einer wie Walter, der fünf Jahre in einem Russenknast verbracht hat.

Der Neuankömmling macht seine Runde, besucht Angehörige und Familienfreunde, überreicht sein Sträußchen Osterglocken und wird bei Bohnenkaffee und "Kaltem Hund" auf Porzellan mit Blümchendekor recht deutlich mit dem Vorwurf konfrontiert, sich falsch verhalten zu haben. Warum sollte man sich im Osten gegen die Russen auflehnen, wenn man damit doch nur sich - und noch dazu die eigene Mutter - ins Verderben stürzt? Den Kleinbürgern, die schon unter den Nazis den Mund gehalten haben, geht jedes unangepasste Verhalten gegen den Strich.

Tante Hille zum Beispiel: "Was ich erlebt hätte im Lager, das sei gewiss auch fürchterbar. Aber das wollen wir mal jetzt auf sich beruhen lassen, all diese schrecklichen Geschichten! Der Mensch muss auch vergessen können. Und: Irgendwie ja selber schuld, würde sie sagen, oder?"

Nicht zufällig heißt die Hauptfigur Walter wie der Autor, der hier - wie in vielen seiner Bücher - autobiografische Erfahrungen einfließen lässt. Kempowski war Sohn eines Rostocker Reeders und einer Hamburger Kaufmannstochter. Da er als "Kapitalistenkind" im Osten diskriminiert wurde, ging er nach Hamburg, wurde aber 1948 bei einem Besuch in der alten Heimatstadt verhaftet. Er kam vor ein sowjetisches Militärtribunal, das ihn wegen Spionage zu 25 Jahren Haft verurteilte. Erst 1956 wurde er amnestiert, sodass er die DDR verlassen konnte. Er kehrte sofort in den Westen zurück, ging zu seiner Mutter, die inzwischen nach Hamburg übergesiedelt war, machte in Göttingen nachträglich Abitur und studierte dort Pädagogik. Von 1965 an arbeitete Kempowski in dem niedersächsischen Dorf Nartum jahrzehntelang als Lehrer. 2007 starb er im Alter von 78 Jahren.

Das nächtliche Gemurmel der Bautzener Häftlinge, die sich unablässig ihr Leben erzählten, hat er nie vergessen. Es brachte ihn schon im Zuchthaus auf den Gedanken, Schicksale zu sammeln und zu bewahren. Nichts anderes hat er als Autor später getan - in den neun Romanen seiner "Deutschen Chronik", in zahlreichen Erzählungen und dem groß angelegten "Echolot"-Projekt, das ihm zum Ende seines Leben jene literarische Anerkennung einbrachte, die die Kritik dem Bestsellerautor lange Zeit verwehrt hatte.

Kempowski hat eine ebenso merkwürdige wie unverwechselbare Art zu erzählen. Statt Charaktere psychologisch zu entwickeln, reiht er Beobachtungen und Erlebnisse, Liedtexte, Zitate und Reflexionen nach genauem Kalkül aneinander. Collagieren nannte Kempowski das, tatsächlich entsteht dabei das atmosphärische Gesamtbild eines Milieus und einer Zeit.

In "Herzlich Willkommen" ist es die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft der späten 50er-Jahre. Hier hat der Ex-Häftling Walter große Mühe, heimisch zu werden. Sein Antrag auf Haftentschädigung wird zunächst abgelehnt. Die Arbeit als Volontär in einem Heim für schwer erziehbare Kinder ist enttäuschend. So geht er nach Göttingen, wo er Pädagogik studiert und ein Zimmer für 40 Mark Monatsmiete "mit eingeschränktem Damenbesuch" bezieht.

Ausgerechnet hier findet er die Frau fürs Leben und eine berufliche Perspektive: Er wird Dorfschullehrer und ist damit in jener Gesellschaft angekommen, die ihn als Ex-Häftling am Anfang keineswegs herzlich willkommen heißen wollte.