Auf dem sechsten Album klingen die Berliner Rocker Rammstein vorhersehbar unmoralisch - fast konservativ.

Hamburg. "Wer wartet mit Besonnenheit, der wird belohnt zur rechten Zeit. Nun das Warten hat ein Ende, leiht euer Ohr einer Legende". Viel Wahrheit steckt in "Rammlied", dem Eröffnungssong des neuen Rammstein-Albums "Liebe ist für alle da". Nach der letzten Platte "Rosenrot" war es vier Jahre lang recht ruhig um die Berliner Band, die wie keine andere mit schöner Regelmäßigkeit für legendäre Kontroversen sorgte. In den 15 Jahren ihrer erfolgreichen Karriere haben Till Lindemann, Richard Zven Kruspe, Paul H. Landers, Oliver Riedel, Christoph "Doom" Schneider und Christian "Flake" Lorenz schon so viele "Skandale" angehäuft, dass sich langsam eine Biografie in der Buchreihe "Heyne Hardcore" anbieten würde. Rammstein in einer Reihe mit Pornostars und Rockpersönlichkeiten wie Motörhead, Mötley Crüe und KISS, das passt. 2009 mehr denn je.

Für den Videoclip zu "Stripped" bedienten sie sich 1998 bei Leni Riefenstahls olympischen Filmgekurbel, um sich 2001 mit "Links-2-3-4" eindeutig links von der Mitte zu positionieren. Sie besangen 2004 in "Mein Teil" den Kannibalen von Rotenburg und gehörten manches Mal wie Marilyn Manson zu den kritisierten Bands, wenn es in den USA darum ging, Schulmassaker aufzuarbeiten. Kein Wunder, dass das saftig-pornografische Video zu "Pussy", der ersten Nummer-Eins-Single Rammsteins überhaupt, vor wenigen Wochen kaum noch Aufsehen erregte: "Pussy" ist mit seiner Aneinanderreihung deutscher Vokabel-Klischees wie "Blitzkrieg", "Autobahn" und "Mercedes Benz" auch für die Band nur ein stumpfer Ballermann-Hit, das nicht jugendfreie Video eine spontane und von MTV nicht zu sendende Schnapsidee. Überraschend wäre nur der Verzicht auf kalkulierte Empörung gewesen.

Und so gibt es auch auf dem sechsten Album "Liebe ist für alle da" keine geistig-unmoralische Wende und wenig Experimente. Rammstein ist eine fast konservative Band. "Das musikalische Korsett von Rammstein ist eigentlich sehr eng", sagt auch Gitarrist Richard Kruspe, und so klingen das sakral-brachiale "Rammlied" und die Hochtempo-Pirsch "Waidmanns Heil" so, wie sich Rammstein 1994 erfand: "Elektro-inspirierter Stampfbeat und Gitarrenwände" (Kruspe), die wie Panzer über Waldhörner, Walzer-Takte ("Wiener Blut") und den Chanson-Ausflug "Frühling in Paris" donnern. Und wer würde Rammstein vorwerfen wollen, seit sechs Alben wie Rammstein zu klingen? Eisern wie Kruspes Vorbild AC/DC folgt man auch dieses Jahr dem 1994 entworfenen akustischen Masterplan, dem sich Rammstein stur unterwirft. Kruspe zum Beispiel würde gerne mal ein wildes Solo wie Angus Young spielen, aber "Rammstein ist auch Verantwortung", wie er sagt. Und so schrubbt er zusammen mit Paul H. Landers auch 2009 Riffs runter, die sich kaum von denen des 1995er-Debüts "Herzeleid" unterscheiden: das Fundament für Lindemanns mit Führer-Grrrollen vorgetragene Erzählungen über Schmaltiere vor des Waidmanns Flintenlauf und den Brechtschen Haifisch, der nicht nur Zähne, sondern auch Tränen hat. Der reinste Zoo.

Dabei sorgt Rammstein nicht mit "Pussy" für Höhepunkte, sondern wenn das enge Korsett verlassen wird: Wie mit "Seemann" auf "Herzeleid" gibt es am Schluss des neuen Albums mit "Roter Sand" eine mordsromantische Westernballade: "Eine Liebe ist ein Versprechen, sagt: Ich komm zurück zu dir. Nun, ich muss es leider brechen, seine Kugel steckt in mir". Ja, selten - und das ist der eigentliche Skandal - verbirgt sich zwischen Textzeilen wie "Wer ficken will, muss freundlich sein" der Hinweis, dass Rammstein eine laut Kruspe "typisch deutsche Band" ist. Im Sinne von Dichten und Denken.

Die Fans, treu wie deutsche Rauhaardackel, bellten bis auf das Debüt "Herzeleid" noch jedes Album an die Spitze der Charts, und "Liebe ist für alle da" wird seinen Vorgängern wahrscheinlich folgen - das nächste Konzert am 14. Dezember in der Color-Line-Arena ist jedenfalls ausverkauft. Dort und 2010 bei Rock am Ring und Rock im Park wollen die Fans eher keine düstere Romantik, kein "Roter Sand", "Seemann" oder "Engel" hören, sondern kakofonisches Kettengerassel mit Stromgitarren, Flammenwänden und Knallbonbons. Blitzkrieg as usual.

NACHTRAG: Nach 300.000 verkauften Exemplaren ist das Album auf dem Index gelandet und darf nur noch an Personen über 18 Jahren verkauft werden.

Rammstein: Liebe ist für alle da CD (Universal) im Handel. Konzert: Mo 14.12., Color-Line-Arena, ausverkauft, Internet: www.rammstein.de