Wie nirgendwo sonst in Europa wird man im Michel künftig das ganze klangliche Spektrum der Orgelmusik hören.

Hamburg. Elf Monate war der Innenraum des Michel aufgrund einer umfassenden Sanierung und Restaurierung nicht zugänglich. Wenn er am 31. Oktober mit einem Gottesdienst zum Reformationsfest erstmals wieder genutzt wird, dürfte aufmerksamen Besuchern eine Veränderung an der Decke besonders auffallen: Über der Mitte des Raumes öffnet sich ein großes ovales Loch, das mit Gitterstreben versehen ist, an deren Schnittstellen goldenen Rosen prangen. Es ist das einzig sichtbare Element des sogenannten Fernwerks, der spektakulärsten Neuerungen.

Ältere Hamburger, die den Innenraum noch aus der Zeit vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs kennen, wird dieses Schall-Loch vertraut erscheinen.

Auch die Unternehmerin Lieselotte Powalla, die gemeinsam mit ihrem Mann einen großen Teil der Sanierungsarbeiten finanziert hat, kannte den Klang des Fernwerks noch aus ihrer Kindheit und wünschte ihn sich zurück. Die Wiedergewinnung dieses Klanges war auch der Wunsch, der sie und ihren Mann Ende 2007 dazu motivierte, die Sanierung mit einer Millionenspende ihrer G. u. L. Powalla Bunny's Stiftung zu ermöglichen. Dadurch konnte das eigentlich auf mindestens fünf Jahre angelegte Michel-Projekt mit einem Mal sehr viel schneller verwirklicht werden. Leider war ihr selbst nicht vergönnt, die Vollendung zu erleben, Lieselotte Powalla starb am 18. April im Alter von 86 Jahren.

Aber was ist überhaupt ein Fernwerk? Nachdem der Michel im Juli 1906 einem verheerenden Brand zum Opfer gefallen war, wurde er in den folgenden sechs Jahren nach historischem Vorbild wiederaufgebaut, wobei Architekten und Bildhauer jedoch Akzente setzten, die dem zeittypischen Neobarock und Jugendstil entsprachen. Die große, von der Firma Walcker erbaute Orgel war die damals größte Kirchenorgel der Welt. Im Dachbereich oberhalb des Prospekts befand sich mit dem Fernwerk quasi eine zweite Orgel, deren Klang durch einen 20 Meter langen Kanal oberhalb der Kirchendecke bis zu dem markanten Schall-Loch geleitet wurde, durch das er schließlich den Raum erreichte.

In der nüchternen Nachkriegszeit hatte man für solche Effekte keinen Sinn. Für die Firma Steinmeyer, die die stark beschädigte Walcker-Orgel 1961/62 durch einen Neubau ersetzte, kam ein Fernwerk daher überhaupt nicht in Betracht. Also blieb der Schallkanal ungenutzt, das Schall-Loch wurde ziemlich lieblos geschlossen und mit einem weißen Anstrich versehen.

Auch die deutlich kleinere romantische Marcussen-Konzertorgel auf der Nordempore hatte man in der Nachkriegszeit umgebaut und klanglich verändert. Beide Instrumente waren inzwischen so in die Jahre gekommen, dass eine Sanierung eigentlich längst überfällig gewesen wäre. Daher standen die Orgeln neben der Sanierung von Dach und Innenraum ganz im Vordergrund des großen Michel-Projekts, das nun in den nächsten Wochen vollendet werden kann. Mehr noch: Wie in kaum einer anderen europäischen Kirche wird man im Michel künftig das ganze klangliche Spektrum der Orgelmusik spielen und hören können: Von der Steinmeyer- und der Marcussen-Konzertorgel, die von Orgelbau Hartwig Späth (Freibug) und Orgelbau Klais (Bonn) mustergültig restauriert wurden, über das wiedergewonnene Fernwerk bis hin zu einer völlig neuen Orgel mit barockem Klangbild, die im nächsten Jahr auf der Südempore errichtet werden soll. Diese Philipp-Emanuel-Bach-Orgel, die dem in Hamburg tätigen und im Michel begrabenen Sohn des Thomaskantors gewidmet ist, wird voraussichtlich im Dezember 2010 eingeweiht werden. Hinzu kommt noch die kleine "Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Orgel", die bereits seit einem Jahr in der Krypta gespielt wird.

Aber wie klingt nun das Fernwerk, dessen 1222 Pfeifen sich den Blicken so geheimnisvoll entziehen? Die Besucher im Schiff hören die Töne mit der Verzögerung von einer Sechstelsekunde, was einen besonderen Klangeffekt erzeugt, die Organisten aber auch vor eine Herausforderung stellt. "Es sind unglaublich leise Klänge, aber mit den vier Hochdruckregistern erreichen wir auch eine enorme Klangfülle", schwärmt Michel-Kantor Christoph Schoener, und fügt hinzu: "Das Fernwerk eignet sich für die Musik des späten 19. Jahrhunderts, zum Beispiel für Max Reger. Aber es ist wie mit dem Gewürz beim Kochen, man sollte sparsam damit sein."

Zum Reformationsfest wird die Marcussen-Konzertorgel wieder erklingen, die restaurierte Steinmeyer-Orgel und das neue Fernwerk sollen erstmals am 1. Advent zu hören sein - zum offiziellen Abschluss der Sanierung.