Er war Sturm, er war Drang, er war der Künstler der Freiheit. Eine Annäherung des Germanisten und Schiller-Experten Peter-André Alt.

Am 17. September 1801 besuchte Friedrich Schiller in Leipzig das Theater am Rannstädter Tor, um eine Aufführung seines Dramas "Die Jungfrau von Orleans" zu sehen. Die Premiere hatte sechs Tage zuvor, am 11. September, unter Begeisterungsstürmen des überwältigten Publikums stattgefunden. Nach der Vorstellung bildeten die Zuschauer ein Spalier und feierten Schiller, wie das "Journal des Luxus und der Moden" berichtete, "unter dem Ertönen der Pauken und Trompeten, mit allgemeinem Klatschen, Vivat und Zuruf".

Die Leipziger Jubelszenen waren ein äußerer Höhepunkt in Schillers Künstler-Karriere. Sie wurden später, nach seinem Tod im Mai 1805, zum Bestandteil einer verklärenden Ruhmesgeschichte, in der sich Wahrheit und Mythos auf schwer entwirrbare Weise verschlingen.

Begonnen hatte Schillers literarische Laufbahn zwei Jahrzehnte vor den Leipziger Huldigungen mit dem Drama "Die Räuber", das er als Medizinstudent auf der Stuttgarter Hohen Karlsschule heimlich neben den Vorlesungsstunden schrieb. Das Schauspiel von Bruderhass, Intrige, Rebellion und aufrechter Liebe enthielt alle Zutaten, die das damalige Publikum schätzte: schwindelerregendes Pathos, empfindsame Intermezzi, erhabene Naturschwärmerei, Bibelzitate, Teufelsmythologie und Genieverherrlichung.

Ein anonymer Augenzeuge berichtet von tumultartigen Reaktionen auf das Feuerwerk der Leidenschaften, das die Mannheimer Uraufführung im Januar 1782 entfachte: "Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraume! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung bricht."

In Mannheim, wo er für kurze Zeit ein Auskommen als fest angestellter Bühnenautor fand, vollendete Schiller seine rebellisch-aufbegehrenden Jugendstücke "Die Verschwörung des Fiesko zu Genua" und "Kabale und Liebe". In Leipzig und Dresden entstand während der folgenden Jahre der "Don Karlos", das erste seiner Trauerspiele, das in klassischen Blankversen verfasst ist. Mit seinem Bekenntnis zu einer politisch radikalen Aufklärung war das 1787 uraufgeführte Stück ein Vorbote der Französischen Revolution, die nur zwei Jahre später Europa erschüttern sollte.

Das flammende Plädoyer, mit dem der Marquis Posa von König Philipp, dem größten Despoten des 16. Jahrhunderts, Gedankenfreiheit fordert, nimmt die Staatsumwälzung in Paris wie eine literarische Prophezeiung vorweg. Die Audienzszene mit Posa und Philipp in der Mitte des "Don Karlos" ist ein typisches Muster für Schillers dramatische Kunst und die überraschend modernen Seiten ihrer politischen Diagnosen.

Der Marquis Posa, der den spanischen König von seiner Vision menschlicher Autonomie überzeugen möchte, gerät in dem Moment, da er seine Vorstellungen verwirklichen will, selbst in den Bannkreis einer fatalen Politik. Am Ende der Aussprache mit dem König ist er dessen geheimer Berater und damit in ein Doppelspiel verstrickt, das seine moralische Integrität auflöst.

Schillers Stück zeigt, dass die Freiheit nicht allein dort vernichtet wird, wo man sie unter Berufung auf die Staatsräson beschränkt. Ihr Totengräber ist auch der, der in ihrem Namen handelt und dabei glaubt, sich über die elementaren Grundsätze der Toleranz und Menschlichkeit hinwegsetzen zu dürfen. Die furchtbaren Tyrannen des 20. Jahrhunderts werden in dieser Schlüsselszene einer politischen Dialektik schon porträtiert, noch ehe sie die Weltbühne betreten haben.

Als Schriftsteller und Historiker, als Philosoph und Kritiker zeigte Schiller eine Urteilskraft, deren besondere Stärke die geistige Unabhängigkeit war. Denkkonventionen, soziale Zwänge und Formen nationaler Borniertheit ließ er nicht gelten. Sich selbst sah er in der Rolle des Kosmopoliten, dessen Aufmerksamkeit der gesamteuropäischen Kultur galt.

Friedrich Heinrich Jacobi gegenüber erläuterte er im Januar 1795 sein Ziel, mithilfe eines universellen Bildungsprogramms die Grenzen von Epochen und Nationen zu übersteigen: "Wir wollen, dem Leibe nach, Bürger unserer Zeit sein und bleiben, weil es nicht anders sein kann; sonst aber und dem Geiste nach ist es das Vorrecht und die Pflicht des Philosophen wie des Dichters, zu keinem Volk und zu keiner Zeit zu gehören, sondern im eigentlichen Sinne des Worts der Zeitgenosse aller Zeiten zu sein." Dieses Bekenntnis zu einer kosmopolitisch-europäischen Identität ist nach Schillers Tod oft genug vergessen worden. Die Jungdeutschen feierten sein Werk vor 1848 als Ausdruck eines liberalen Denkens mit nationalen Tendenzen; Handwerker und Professoren, Kleinbürger und Intellektuelle erhoben ihn 1859, aus Anlass seines 100. Geburtstags, auf das Postament einer patriotischen Ruhmesgeschichte. Das war ebenso irreführend wie jene seit der Frühromantik verbreitete Kritik, die Schiller zum realitätsblinden Vertreter eines weltfremden Idealismus stempelte.

Weder die Jubelchöre mit ihrer Neigung zur bedingungslosen Überhöhung noch die polemischen Gegenstimmen, die Schiller in der Nachfolge Nietzsches zum "Moraltrompeter von Säckingen" erklärten, erfassten jedoch das Besondere seiner literarischen Bedeutung: die nervöse Spannung, die seine Sprache unter ihren grandiosen Pathoslinien aufweist; die moderne Psychologie seiner Machtspiele; die raffinierte Dramaturgie der Überwältigung, die er auf der Bühne in Szene setzt; die bestechende Schärfe seiner Sozialkritik; sein Gespür für das, was Adorno und Horkheimer viel später die Dialektik der Aufklärung - ihre Spannung zwischen Freiheit und Unterdrückung - nannten.

Wer heute Schiller liest, wird erstaunt feststellen, dass seine Befunde keineswegs veraltet, seine dramatischen Zeitbilder sogar von erschreckender Aktualität sind. Sein Theater der Macht führt uns Abgründe von Selbstgerechtigkeit und Mittelmaß vor Augen. Seine Schauspiele der Politik zeigen uns die Missbrauchsanfälligkeit aller Ideale. Sein Panorama der Geschichte offenbart Züge des Zufälligen und Beliebigen weit eher als Planung, Verstand und Fortschritt. Seine Zergliederung der menschlichen Seele lässt uns Ehrgeiz, Vermessenheit und Eitelkeit erblicken.

Schillers dramatische Porträts sind nicht zeitlos, aber sie dokumentieren, dass es eine Kontinuität von Problemlagen gibt, in der wir heute noch stehen. Weder unbedingte Identifizierung noch unbeteiligter Abstand sind die Haltungen, die Schiller gerecht werden.

Eine Position, die beide Fehler vermeidet, besteht darin, in der Auseinandersetzung mit der Geschichtlichkeit seines Werks zugleich die Distanz zu bedenken, die uns von ihm trennt. Man muss ihn ernst nehmen, indem man sein Pathos, seine intellektuellen Extreme und seine Kunst der Erregung als Herausforderung begreift, die zu allen Zeiten wie ein Brandsatz der Empörung gegen Anmaßung und Gedankenlosigkeit gewirkt hat.

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