Von Stolz hält er nichts, verbeugen mag er sich nicht, und wählen geht er nicht. Peter Stein ist ein Urgestein des deutschen Theaters.

Berlin. Peter Stein lächelt nicht. Er neigt nicht so zum Lächeln. Und er kann Journalisten nicht leiden, heißt es. Den ersten Interviewtermin in einem Berliner Hotel ließ er platzen, jetzt sitzt er in der Kantine des Berliner Ensembles und trinkt einen Kaffee. Lebendige Theatergeschichte. Der Meister der Texttreue. 21 Stunden hat sein legendärer (und ungekürzter) "Faust" auf der Expo 2000 gedauert. Am Sonntag gastiert sein "Zerbrochner Krug" auf dem Hamburger Theaterfestival. Mit echten Hühnern. Bühnenhühnern. Und mit Brandauer.

In der Kantine holen sich Schauspieler mit Hitlerbärtchen Schnitzel. Ein Gespräch über die Unsterblichkeit des Theaters, deutsche Provinzialität - und darüber, warum Peter Stein nicht wählen ging.

Hamburger Abendblatt: Sie sind gerade 72 geworden. Wenn Sie auf junge Schauspieler treffen - was sehen Sie?

Peter Stein: Die Zukunft des Theaters! Es braucht Leute, die auf die Schnapsidee kommen, diesen Beruf auszuüben. Man kann das aber nicht lernen, indem man zeitgenössische Stücke spielt. Völliger Unsinn. Das Theater ist vor 2500 Jahren erfunden worden. Wenn man was darüber erfahren will, muss man sich mit der Geschichte beschäftigen. Nicht mit dem, was das Theater heute macht. Das Theater verlangt Konzentration, damit haben viele große Probleme.

Abendblatt: "Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters", hat Max Reinhardt gesagt. Sie auch?

Stein: Ja, natürlich!

Abendblatt: Spricht nicht viel dagegen? Veränderte Rezeptionsgewohnheiten, das Überangebot?

Stein: Aber ohne Theaterspielen kommt man doch gar nicht über die Straße. Die andere Frage ist, wofür die Subventionen ausgegeben werden. Man muss die Kunst der Schauspieler fördern und darf sie nicht als mechanische Puppen behandeln. Ist der Regisseur gleichzeitig Autor, fehlt die dritte Dimension. Der Schauspieler wird zum Exekutionsinstrument.

Abendblatt: Ihr Vater war Ingenieur. Wie sind Sie zum Theater gekommen?

Stein: Ich stamme aus einem großbürgerlichen Haus. Meine Mutter wollte Bildhauerin werden und hat es wegen der Ehe aufgegeben. Mein Vater hatte eine hervorragende Allgemeinbildung. Er wollte zwar, dass ich auch Ingenieur werde, ich wollte das aber keinesfalls. Ich hatte Angst vor dem deutschen Provinzialismus.

Abendblatt: Das Theater ist Ihr Ausweg aus dem deutschen Provinzialismus?

Stein: Zunächst habe ich ja studiert. Literaturgeschichte, Kunstgeschichte. Ich war aber zu blöd für eine wissenschaftliche Karriere, zu undiszipliniert. Und bei Sekundärliteratur bin ich grundsätzlich eingeschlafen. Am Theater hatte ich das Gefühl, dass da Leute sind, die auf einen aufpassen. Das hält wach.

Abendblatt: Ihre eigene Arbeit haben Sie schon als "Schrott" und "Mist" bezeichnet. Ist das Koketterie - oder wäre Zufriedenheit das Ende aller Kreativität?

Stein: Natürlich! Wer kann denn mit der eigenen Arbeit zufrieden sein?! Das kann, also, höchstens ein Tischler! Weil der etwas ganz Konkretes schafft. Aber ein derart flüchtiges Gebilde wie Kunst? Ausgeschlossen! Und Koketterie ist mir nun wirklich nicht eigen. Haben Sie etwa das Gefühl, ich sei kokett?!

Abendblatt: Ich gebe zu, dass "kokett" kein Begriff ist, der zu Ihnen passt.

Stein: Ich bin mir gegenüber einfach wesentlich kritischer als alle Vernichtungskritiker, die seit Jahrzehnten versuchen mich fertigzumachen. Weil die keine Ahnung haben. Ich habe aber Ahnung. Und deshalb weiß ich auch, wo ich gesündigt habe. Ich weiß aber auch, wenn ich etwas geschafft habe.

Abendblatt: Sie haben immerhin das deutsche Theater mitgeprägt. Jetzt leben Sie in Italien. Schauen Sie hier noch regelmäßig Vorstellungen an?

Stein: Regelmäßig wäre übertrieben. In Deutschland gehe ich nur, wenn man mich zwingt.

Abendblatt: Wer zwingt Sie denn?

Stein: Wenn ich besetzen muss, muss ich ja Schauspieler angucken. Und wenn mir Leute, die ich für verantwortlich halte, etwas empfehlen, lasse ich mich manchmal breitschlagen.

Abendblatt: Ist das Theater wirklich so schlecht geworden?

Stein: Was hier normalerweise gemacht wird, interessiert mich einfach nicht. Ich lasse mich nicht verarschen. Ich lasse mir nicht von Dummköpfen mitteilen, was Sache ist.

Abendblatt: Wen meinen Sie? Jemanden wie Michael Thalheimer? Jüngere Regisseure?

Stein: Na, so jung ist der Thalheimer ja nun auch nicht. Die sogenannten jungen Regisseure sind ja alle über 50.

Abendblatt: Es kommen ja jüngere nach. Jorinde Dröse, Jette Steckel. Aber das sind Frauen - da gehen Sie dann ja auch wieder nicht hin.

Stein: Ich bin ein absoluter Macho, ja. Ich hab was gegen weibliche Regisseure. Aber mehr spaßeshalber. Wenn mir etwas gefällt, wie von Andrea Breth, dann schlage ich sie schon mal als meine Nachfolgerin vor. Aber ich muss auch gestehen, Gegenwartstexte lege ich oft nach zehn Seiten weg, weil sie mich langweilen. Die Realität kenne ich, da brauche ich nicht so einen Schrieb. Es interessiert mich doch einen Scheißdreck, was bei den Leuten im Schlafzimmer passiert. Das heißt: Ich weiß es schon. Ist wahrscheinlich so ähnlich wie das, was in meinem passiert. Aber man kann nicht alles gut finden, das kann ja keiner verlangen.

Abendblatt: Was verlangen Sie denn von Ihrem Publikum?

Stein: Dass sie hingucken. Geduld haben. Möglichst vorurteilsfrei sind.

Abendblatt: Für wen machen Sie Theater?

Stein: In erster Linie für Theaterleute. Allerdings so, dass jeder Depp es versteht. Vor allem ich selbst. Wenn ich es verstehe, dann verstehen das auch viele andere Leute. Ich arbeite nicht mit Einfällen, die gehen mir ab. Ich arbeite so, wie ich glaube, dass der Autor das beabsichtigt hat.

Abendblatt: Ist Theater eine elitäre Kunstform?

Stein: Natürlich. Es gehen ja nicht mehr rein als 1500 Leute. Und man muss sich auf die Kunst zu bewegen. Das ist nicht wie beim Fernsehen oder beim Internet, das man geliefert bekommt. Wo man ein Bier dazu trinken und auch noch onanieren kann. Wo man bedient wird.

Abendblatt: Haben Sie einen Fernseher zu Hause?

Stein: Nein. In Hotels schaue ich, unterwegs. Aber in erster Linie Nachrichten. Ich gucke die lokalen Sender in England, in Italien, in Frankreich.

Abendblatt: Sie sind mal als "der deutscheste aller deutschen Regisseure" bezeichnet worden. Sind Sie das?

Stein: Ein deutscher Regisseur bin ich wohl, vor allem weil ich Deutsch am besten beherrsche von all den Sprachen, die ich spreche. Ich habe versucht mich zu maskieren, aber das gelingt letztlich nicht. Aber wenn ich an all die überflüssigen Ehrungen und Medaillen denke, die ich so bekommen habe, habe ich wesentlich mehr im Ausland bekommen.

Abendblatt: Haben Sie Ihren deutschen Pass noch?

Stein: Natürlich.

Abendblatt: Haben Sie gewählt?

Stein: Nein. Ich kann ja nur Briefwahl machen.

Abendblatt: Das gilt ja genauso.

Stein: Aber dann muss man mir doch die Papiere zuschicken.

Abendblatt: Sie könnten sich darum bemühen.

Stein: Das geht zu weit. Ich bin sehr beschäftigt.

Abendblatt: Sie verschenken Ihr Wahlrecht?

Stein: Das stimmt. Ich kriege von der Botschaft regelmäßig irgendwelchen Blödsinn, überflüssige Einladungen, zu denen ich nicht gehe. Aber meinen Wahlschein kriege ich nicht.

Abendblatt: Was machen Sie eigentlich mit all den ,überflüssigen' Auszeichnungen, die Sie so bekommen?

Stein: Nichts Besonderes. Ich lagere sie so, dass ich sie nicht sehe und dass sie vor allem keinen Staub fangen. Manchmal mache ich eine Schublade auf, und da liegt dann was.

Abendblatt: Mit einem Begriff wie Stolz können Sie nicht so viel anfangen?

Stein: Nein. Ich überlege manchmal, warum ich so eine Auszeichnung bekomme, und komme dann auf Gründe, die mit mir nichts zu tun haben. Außerdem habe ich die allergrößten Schwierigkeiten mit einem Aspekt meines Berufs: mit der Öffentlichkeit.

Abendblatt: Nun ist Theaterregisseur ja ein ziemlich öffentlicher Beruf. Wie äußert sich diese Schwierigkeit?

Stein: Ich verbeuge mich irrsinnig ungern, ich kann keine Interviews, und mit Kritiken habe ich auch ein Problem. Wenn sie negativ sind, bin ich zutiefst beleidigt, und wenn sie positiv sind, finde ich sie saumäßig blöde.