Richard Powers erzählt in dem Roman “Das größere Glück“ von der jungen Autorin Thassa, deren stetes Glückgefühl medial ausgeschlachtet wird.

Am Ende löst sich alles auf, die Wirklichkeit verblasst. Es ist die Wirklichkeit der Fiktion; der Erzähler hält den Vertrag nicht ein, den er mit dem Leser ausgehandelt hat: Ich erzähle dir etwas und bekomme deine Aufmerksamkeit dafür. Aber hat die narrative Instanz in dem Roman "Das größere Glück" wirklich ein Versprechen gegeben? Stand sie nicht eher von Anfang an auf wackligen Beinen? Was ist wahr? Was ist möglich?

Der amerikanische Autor Richard Powers, einer der wichtigsten unserer Zeit, spielt ein Versteckspiel in seinem neuen Roman. Die Handlung ist Erfindung, könnte aber auch Dokumentation sein. Denn vom schrecklichen Fortschritt, den Powers in "Das größere Glück" beschreibt, kann man vielleicht wirklich nur mit technischem Verfremdungseffekt erzählen. Genetische Versuche, das Schicksal des Menschen zu planen, sind im 21. Jahrhundert eine höchst reale Kulisse, vor der in Powers' neuem Werk die uralte Frage verhandelt wird: Was ist das Glück?

Thassadit Amzwar, eine junge Algerierin, kann sich aus dem Bürgerkrieg ihrer Heimat über Kanada nach Chicago retten. Dort verzaubert das seltsame Wesen seine Mitmenschen. Sie lacht, sie strahlt, sie ist neugierig. Ihr Lebenshunger ist unersättlich. Sie berichtet vom schrecklichen Schicksal ihrer toten Eltern, aber sie leuchtet wie eine Rosskastanie in der Herbstsonne.

Diese Thassa, Besucherin eines Kurses für Kreatives Schreiben am College, ist ein Fabelwesen. Sie ist zur permanenten Euphorie begabt, und sie ruft deshalb ihre Umwelt auf den Plan. Denn es kann ja nicht sein, dass jemand immer glücklich ist. Leidet sie an Hyperthymie, an einer stets ungewöhnlich gehobenen Verfassung? Leidet sie?

Russell Stone, ihr melancholischer Lehrer, und Candace Welds, die College-Psychologin, nehmen sich der jungen Dame an. Aus einem menschlichen Interesse an der besonderen Person wird aber schnell ein unmenschlicher Hype, als sich die Welt auf Thassa, die Glückliche, stürzt. Sie wird zur Person der Stunde, herumgereicht in Talkshows und Gegenstand der Forschung, Modell einer optimierten Zukunft des Gen-Pools. Die Suche nach dem Glücks-Gen entfremdet Thassa ihrer selbst. Sie kann nicht verstehen, dass die Menschen in ihr etwas Besonderes sehen müssen. Sie nimmt Reißaus, aber die Einkesselung, die Vereinnahmung beschädigt die rohe Schönheit ihres Glücks. Sie bleibt nicht die, die sie war.

Im Vorgängerroman "Das Echo der Erinnerung" machte sich Richard Powers auf Erkundungstour im menschlichen Hirn, die die frustrierende oder, je nach Perspektive, beruhigende Erkenntnis zutage förderte, dass das, was uns zur Persönlichkeit macht, auf neurologischen Zweckmäßigkeiten beruht. Die stellenweise schlimmen Dialoge machte der psychologisch zwingende Erzähler Powers durch dichte Schilderungen und dem Erzeugen von Spannung wett. Die Spannung fehlt in "Das größere Glück" fast völlig. Bald ahnt man, was mit Thassa geschehen wird; und da ist ja auch die satirische Ebene. Die Mechanismen der Mediengesellschaft greifen auf absurd anmutende und doch allzu realistische Art und Weise.

"Das größere Glück" ist auch eine Parabel auf die Krankheit der Schriftsteller und Wortsetzer: dass sie zu sehr an Wörter glauben. Dies hält die unbeschwerte und doch nicht für die Bedrückungen ihrer Mitmenschen blinde Thassa Russell Stone dem gehemmten Lehrer einmal vor. Dessen unbedingter Wille, ein Schriftsteller zu sein und über das Erzählen einen Platz in der Welt zu finden, verknüpft sich mit dem Schicksal der Heldin.

So ist "Das größere Glück" zugleich wieder einmal der moralische Triumph des Erzählers über den Wissenschaftler: "Das unerträgliche Gewicht des Plots erdrückt ihn", lässt Powers seinen Erzähler über Russell Stone sagen.

Dabei ist die Geschichte der Thassadit Amzwar eine, die es wert ist, erzählt zu werden. Sie zeigt uns das Glück, unglücklich sein zu dürfen. Und sie hält der Suche nach dem Glück eine immer unvergleichliche Erfahrung entgegen: es ist die der Liebe. Sie kann die Bestürzung auffangen, die das Schicksal der glücklich-unglücklichen Thassa auslöst.

Richard Powers: "Das größere Glück", S. Fischer Verlag, 414 Seiten, 22,95 Euro.