Meine Großmutter mütterlicherseits hatte ein schönes Hobby: Speisekarten rezensieren. Mit ihr durch die Stadt zu flanieren hieß, an jedem Hängekasten eines Lokals zu pausieren. Wenn sie "Aha!" zischte, wusste ich, dass wir uns gleich ein Hausverbot einhandeln würden: Dann hatte sie nämlich das Wort "Seniorenteller" erspäht. Sie nahm mich fest bei der Hand (ich war neun), schob mit ihrem Gehstock resolut die Tür auf und verlangte nach dem Geschäftsführer. Zügig setzte sie ihn davon in Kenntnis, dass sie als Feministin erstens auf einem SeniorInnen-Teller bestünde, zweitens die "Rentnerplatte" für Diskriminierung halte ("Es gibt ja auch keine Hausfrauenteller! Oder Proletarierteller! Glauben Sie, ich hab fünfzig Jahre in die Rente gezahlt, um heute Schnabeltassen-Haschee zu essen? Na?"), drittens sei das arme Kind hier traumatisiert vom Fritten-Schnitzel-Nudelketchup-Kinderteller. Und viertens sei sie Französin, habe demnach das gute Essen persönlich erfunden, un point, c'est tout, Adieu.

Ich lernte von Omaman Marianne alles über die Kunst, von der Speisekarte auf die Seele eines Restaurants zu schließen. Papier, Schrifttype, Einband, dramaturgischer Aufbau (oben rechts gedruckte Speisen werden am häufigsten bestellt!), Länge - und lukullische Linguistik. "Merk dir, ma petite, lange Karte: lange Lagerung, kurze Karte: Frischware. Pleonasmen wie knackiger Salat, saftige Steaks oder fruchtige Beeren sind wie tote Leichen, nur mit geschwätzigeren Adjektiven. Und 'an', 'auf' und 'von' heißt wenig und teuer. Compris?" Kalbsbries an Keniaschote, Mousse von Dingsbums - reizbarer reagierte sie nur noch auf schamlose Übertreibungen wie marinierte Pasta à la Tedesco (Nudelsalat), Thai-Saucisse an Pariser Kartoffelspalten (Currywurst/Pommes) oder Dialog vom Weiderind und Eichelschwein (Hackbraten). Omaman nannte diese Küchenprahlerei Leberwurscht-Poesie.

Sie beschwor mich aber, in jedem Fall einen Linksesser zu ehelichen. "Es gibt zwei Sorten Menschen. Die einen wählen links auf der Karte nach Appetit. Die anderen rechts nach den Preisen." Sie bedauerte es zutiefst, dass die Damenkarte außer Mode gekommen ist. Die Speisekarte ohne Preise hatte für sie nichts mit Anti-Emanzipation zu tun, aber viel mit Freiheit. Omaman fehlt mir.

Paste e Basta Eine Bühne wird zur Show-Küche voller Leidenschaft, Musik & Genuss, Liederabend von Dietmar Loeffler, Do 15. und Fr 16.10., 20.00. Kammerspiele (U Hallerstr.), Hartungstr. 9-11, Tickets 39,-, Tel 0800/41 33 440; www.hamburger-kammerspiele.de

Nina George schreibt jede Woche in LIVE und liebt Hamburg.