“Wir haben keinen Wert mehr“, ruft das alte Ehepaar auf der Bühne, dem die Ersparnisse durch Spekulationsgeschäfte der Banken abhanden gekommen sind. Und es bezeichnet schön doppeldeutig, wie es die Schriftstellerin Elfriede Jelinek liebt, nicht nur den Verlust des Wohlstands, sondern auch den des Status.

Hamburg. Auch Worte wie "erlösen", "abfinden", "abnehmen" oder "ersparen" bekommen bei ihr einen ganz neuen Sinn.

Ihr Stück zur weltweiten Finanzkrise, "Die Kontrakte des Kaufmanns", hatte Elfriede Jelinek schon fertig, bevor die Bankenkatastrophe ausbrach. Inzwischen hat die Literaturnobelpreisträgerin es mehrfach bearbeitet und mit neuen wilden, wütenden Wortkaskaden über den Börsenkapitalismus angereichert - auch noch einmal zur Hamburger Premiere, die am Wochenende am Thalia-Theater über die Bühne ging..

Regisseur Nicolas Stemann, der die Uraufführung im April in Köln herausbrachte, hat auch für Hamburg einen Abend geschaffen, der sich dem handlungslosen, vielstimmigen Sprachfuror eher improvisatorisch nähert. Es wird gesungen, gespielt, gemalt, gefilmt und musiziert. Und vor allem monomanisch monologisiert. Nach knapp vier Stunden gab's für diese wilde, kraftvolle Inszenierung, die manchmal erheiternd, gelegentlich erhellend, ermüdend und erschöpfend ist, aufbrandenden Beifall.

Es ist keine Aufführung im klassischen Sinn; schon zu Beginn kommt der Regisseur auf die Bühne und spricht von einer "Textumsetzungsmaschine", an der sich das Ensemble aus Schauspielern, Musikern, Assistenten und einer Videokünstlerin versuchen würde. Das Licht im Zuschauerraum bleibt an, man kann jederzeit gehen, aber nicht entkommen, denn auch in die Foyers werden die Texte übertragen. Vorne auf der mit allerlei Probenmöbeln, Instrumenten, leeren Flaschen und Stahlträgern zugebauten Bühne (Katrin Nottrodt) liest man auf einem Display die Zahl 99. So viele Seiten hat das Stück. Die Schauspieler (darunter das Damentrio Maria Schrader, Patrycia Ziolkowska, Franziska Hartmann und die Banker-Darsteller Sebastian Rudolph und Daniel Lommatzsch) lesen den Text von einer Blättersammlung ab. Auf der elektronischen Tafel werden die 99 Seiten rückwärts gezählt. Bei 0 wird der Abend zu Ende sein.

Zum Chor der Kleinanleger sagen die Banker anfangs: "Wir haben Ihnen etwas versprochen, was wir gar nicht versprechen konnten. Entschuldigung. Wir haben uns versprochen." Alsbald herrscht Chaos auf der Bühne, sinnbildlich eben das, was die Finanzkrise angerichtet hat. Jede Sicherheit, auch darüber, wie der Abend verlaufen wird, scheint verloren. Nach zweieinhalb Stunden ist man auf Seite 43 angekommen.

Natürlich könnte man dieses ewig kreisende Textkonvolut bändigen und straffen. Doch die abwechslungsreiche Collage lebt von den vielen Bildern, der Spielfreude, der Anarchie auf der Bühne. Und ist es nicht genau das, was die Finanzkrise uns gezeigt hat: Anarchie siegt.