Also, von mir hat er diese Kamerascheu nicht. Wahrscheinlich von seinem Onkel (tschuldige, Liebling), der eine begnadete Technik entwickelt hat, im Moment des Bildauslösens zu niesen, sich aus dem Fotoausschnitt zu beugen oder einfach die Augen zu schließen.

Mein angeheirateter Neffe Jens ist das, was man im Ruhrgebiet einen Jonny (Dschonni) nennt: Er betreibt Unterwasser-Rugby, redet nur, wenn er was zu sagen hat, und würde für Frau und Söhnchen Paul durchs offene Feuer gehen. Kurz: ein Bild von einem Mann.

Es sei denn, ich will ein Bild von diesem Mann. Fürs Familienalbum, weil Jens grad so süß guckt. Jens will aber nicht gucken. Und schon gar nicht süß!

Ich bin im Besitz von 97 Aufnahmen, die alles zeigen, nur nicht Jens von vorn. Mal die Tischkante, unter der er wegtaucht, während der Rest der Sippe manierlich in die Linse grinst. Mal eine Bratpfanne, die er sich vors Gesicht hält. Reichlich dokumentarisches Material seines Hinterkopfs. Bilder mit seinen Händen, in den kreativsten Abwehrwinkeln. Eine fliegende Windel seines Sohnes. Das war nicht so schön.

Tief im Herzen vermute ich, es handelt sich um eine testosteronbedingte Allergie auf das Fotografiertwerden. Denn wo Frauen verlegen, aber mit der "Schokoladenseite" posieren, da wird der Mann zum Alpen-Kammmolch, der sich wegduckt oder auf "Ich bin ein Stein" macht. Nur in den Augen so was wie Leben: Wieso muss ich fotografiert werden? Kann sie sich nicht merken, wie ich aussehe? Und wie sehe ich überhaupt aus?!

Wer weiß, wie viele Ehen nicht zustande kommen, weil der Mann sich zwar nicht vor lebenslangem Beieinandersein fürchtet - aber diese Hochzeitsporträts ...

Vielleicht stimmt sie auch, die Legende des Seelenraubs. Wie zahllose Kulturen an die boshafte Macht der Kamera glauben, die die Seele schlürft, so reagiert auch der mit Fotohandy und Internetmob zivilisationsverstörte Mann mit gesunder Panik auf die Linse. Ein Teil von ihm wird unterworfen, belächelt, an Kühlschranktüren geklebt oder endet als Mailanhang: "Guck mal, mein Neuer, sieht in echt viel süßer aus." Eines fernen Tages wird frau ihm das Bild vorhalten: "So jung warst du mal."

Warst du mal. Igitt. Das macht sogar einen echten Dschonni fertig.

Entseelter Mann zerstört die Welt: "Caligula" (A. Camus), Premiere Do 1.10., 20.00, Thalia in der Gaußstraße (Bus 2), Gaußstr. 190, Karten: T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de

Nina George schreibt jede Woche in LIVE und liebt Hamburg.