Die Einheit von Zeit, Ort und Handlung beherrschte einst die Anlage des Dramas. Es taugt auch für Romane, wie der “Stein der Geduld“ des 1962 in Kabul geborenen, seit Langem in Paris lebenden Atiq Rahimi belegt.

In einem halbdunklen Zimmer liegt ein schwer verletzter Mann im Koma. Seine Frau sitzt die meiste Zeit bei ihm und erzählt ihm das Leiden ihres Lebens und ihrer Ehe. In diesem inneren Monolog entwickelt sich eine beim Erzählen erst entstehende Freiheit. Er ist der Höhepunkt einer dramaturgischen Steigerung: Den Anfang bildet ein stehendes Bild von dem Raum. Ein Schwenk führt zu dem liegenden Mann und seinem Foto aus früheren Jahren. Erst dann setzt Sprache ein, die an ein Lied erinnert. Sie führt folgerichtig in die befreiende Beichte der Frau, die das Schweigen der Frauen bricht, ihr Schicksal als eine uns klassisch erscheinende antike Tragödie offenbart.

Atiq Rahimi hat für seinen ersten auf Französisch geschriebenen Roman in 2008 den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, erhalten. Wie in seinen früheren Romanen - auf Deutsch liegt bisher nur "Erde und Asche" vor - geht auch der "Stein der Geduld" von der Wirkung der klassischen Einheits-Triade aus: sparsamer Umgang mit einem Raum, der alles entscheidet, eine Gegenwart, die aus der Vergangenheit gewachsen ist, eine Handlung, die nicht von Aktion und Plot lebt, sondern in langen Einstellungen erzählt wird.

Der Autor ist auch als Dokumentar- und Spielfilmer tätig. Seine Romane leben ebenfalls von dem Wechsel zwischen "Regieanweisung" über die Umstände und der Erzählung selbst. Das Ganze ist in knappen Sätzen geschrieben, die sparsam mit Adjektiven, üppig mit Verben umgehen. Wie der Film nur lebt, wenn sich Kamera, Brennweite oder die Personen und Objekte bewegen, sind es die Verben, die das bewegende Moment in Rahimis Prosa bilden.

Vielleicht ist das sein Geheimnis, wie er auf so kleinem Raum die ganze Lebenstragödie der afghanischen Frau ausbreiten kann: ein Kosmos, der in ihrem Innern reift und diskret explodiert. Alle Mittel dienen Rahimi dazu, eine Wahrheit zu enthüllen, die weit über das persönliche Schicksal dieser Frau hinaus weist, sie wird unausgesprochen zum Politikum, sie geht uns alle an und führt über die Verzweiflung hinaus.

Atiq Rahimi: Stein der Geduld. Deutsch von Lis Künzli, Ullstein, 171 S., 18 Euro.