An die neue Typografie der Thalia-Programme muss man sich erst gewöhnen: Die Stücktitel werden frei nach grafischem Gestaltungswillen getrennt, was bisweilen ganz schick aussieht, in der Regel aber nicht den Sinnzusammenhang befördert.

Hamburg. Anders zur Premiere einer gut bekannten Inszenierung von Nicolas Stemann in der Gaußstraße: "Wert her" steht dort groß auf Plakat und Programm, und das ist doch mal eine Aufforderung ans Theater. Selbst Bestsellerautor und Theaterformenkritiker Daniel Kehlmann, dem bei der Ankündigung, es handele sich bei diesem "Werther" um eine "zeitgenössische Inszenierung" wohl ganz mulmig würde, könnte nicht anders, als freudig einzustimmen: Wert her!

Es ist in der Tat kaum vorstellbar, dass jemanden diese Version des "berühmtesten Ego-Trips der deutschen Literatur", Goethes Briefroman, kaltließe. An die neue Umgebung hat sich der Schauspieler Philipp Hochmair jedenfalls schon gewöhnt: Als Werther - den er seit Mitte der 90er-Jahre nicht nur auf Kampnagel und am Wiener Burgtheater gespielt hat, sondern u. a. auch in Moskau, Bogotà, Toronto - tritt Hochmair in der Gaußstraße im "Thalia"-T-Shirt an. Neues Spiel, neues Shirt. Von Fließbandarbeit, Abgewetztheit, Müdigkeit, keine Spur: Hochmair spielt sein Solo, als sei es soeben frisch entstanden. Rasant, hingebungvoll, offen, mit großer Leidenschaft für die Schönheit der Sprache und für den Klang der Wörter.

Hochmair gibt den nervösen, unglücklich seine (bereits vergebene) Lotte liebenden Werther voll jugendlicher Not, von Stimmungsschwankungen bewegt, jeden Moment droht sein Überschwang zu kippen. Ein emotional geradezu gefährlich offener Kerl, ein Manisch-Depressiver, das Ausrufezeichen im Stücktitel spielt er in jeder Sekunde mit. Als Zuschauer verliebt man sich spätestens dann ebenso hemmungs- und rettungslos in die Unbedingtheit dieses Schauspielers, wenn lautstark Lou Reeds "Perfect Day" aus den Boxen dröhnt.

Denn auch das Publikum liefert sich diesem "Werther!" aus. Hochmair bewirft seine Zuschauer im wütenden Triebstau mit Kopfsalat; er macht sich - wie jeder Verliebte - zum Narren, offenbart auch die Lächerlichkeit, die dem großen Gefühl innewohnt. Er zitiert aus Goethes "Egmont": "Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein; Hangen und bangen in schwebender Pein; Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt; Glücklich allein ist die Seele, die liebt" - und filmt sich selbst beim ausgelassenen Spiel mit der Emotion.

Stemann nutzt Video als ergänzendes, nicht als dekorierendes Element. Er legt auch das Theater offen, die Verabredung des Spiels, lässt Hochmair immer wieder den Saal verlassen, lässt ihn sich mitten in diesem Werther-Ego-Trip als Schauspieler outen ("Vielleicht kann ja Herr Lux eine kleine Abmoderation machen"). Die Ernsthaftigkeit des Gefühls wird gerade dadurch umso erfahrbarer.

Nur 70 komprimierte Minuten brauchen diese drei, Stemann und Hochmair und Goethe natürlich, für ihren "Werther". Ein irrsinnig guter Monolog, existenziell, lustvoll, abgründig, körperlich, intellektuell, komisch, himmelhoch jauchzend, stürmend und drängend. Wenn das das Theater ist, für das das neue Thalia stehen will: her damit. Wagnis her, Leidenschaft her, Wert her. Mit Ausrufezeichen!

Werther! läuft wieder am 24. September im Thalia in der Gaußstraße, Karten unter Tel. 32 81 44 44