Ein Buch über die bösartige Natur des Menschen. “2666“ ist der erste große Roman des 21. Jahrhunderts.

Hamburg. Irritierende Spiegel-Bilder kommen wiederholt vor in Roberto Bolaños Roman "2666", der aus fünf eigenständigen, subtil miteinander verflochtenen Büchern besteht. Das komplette Werk, das 2004 im spanischen Original erschien, ist ein monströser Irrgarten von 1096 Seiten, zwischen dessen Spiegeln der Leser die Orientierung verlieren muss.

Zu den Geheimnissen von "2666" zählt, dass der kompliziert verrätselte Roman mit seinem nichts sagenden Titel sofort eine mächtige mediale Wirkung hatte, dass er als Solitär erkannt wurde, der weit über seine Zeit hinausweist. Die hymnische Aufnahme im spanischsprachigen Raum wurde noch gesteigert, als 2008 die englische Übersetzung erschienen war: "2666" war für "Time" das Buch des Jahres, ein Kritiker sprach vom ersten großen Roman des 21. Jahrhunderts, und der "New Yorker" richtete einen Blog ein, in dem Leser mit Experten über das Buch diskutieren konnten. Überwältigend dürfte auch die Wirkung der jetzt erschienenen exzellenten deutschen Übersetzungsfleißarbeit von Christian Hansen werden, denn in "2666" spielen deutsche Figuren und Schauplätze, deutsche Geschichte und Literatur, deutsches Denken eine wesentliche Rolle.

Paradoxerweise spricht der sperrige Roman zunächst ein Sensationsbedürfnis an: Im Zentrum von "2666" stehen die unfassbaren Verbrechen von Ciudad Juárez. In der mexikanischen Wüstenstadt, die unmittelbar an die USA grenzt, wurden seit 1993 mehr als 370 Frauen ermordet, weitere 400 gelten laut Amnesty International als vermisst. Die meisten Verbrechen sind unaufgeklärt.

Roberto Bolaño hat die Mordserie jahrelang recherchiert. "2666" sollte sein letztes Werk werden. Wenige Tage vor seinem Tod - im Juli 2003 - übergab der 50 Jahre alte Autor das Manuskript seinem Verleger. Bolaño, der an einer Leberzirrhose litt und auf eine Transplantation wartete, hatte zuvor in elf Jahren 13 Prosatexte veröffentlicht. Bekannt machte ihn der anarchisch-experimentelle, autobiografische Roman "Die wilden Detektive", für den er 1999 den Premio Romulo Gallegos, den wichtigsten Literaturpreis Hispanoamerikas, erhielt. Der gebürtige Chilene, der lange in Mexiko und zuletzt nahe Barcelona lebte, war ein Außenseiter der lateinamerikanischen Literatur. "2666" ist sein düsteres Vermächtnis.

Das erste der fünf Bücher im Buch, "Der Teil der Kritiker", erzählt von vier Literaturwissenschaftlern, die einander über das Werk eines obskuren deutschen Autors finden, der unter dem bizarren Pseudonym Benno von Archimboldi veröffentlicht und so geheimnisvoll erscheint wie Thomas Pynchon. Die vier, ein Franzose, ein Italiener, ein Spanier und eine Engländerin, korrespondieren miteinander, treffen sich auf Tagungen, es gibt eine Ménage-à-trois. Was sich streckenweise wie eine Parodie auf den Wissenschaftsbetrieb liest, hat einen tiefernsten Subtext. Was die Welt der vier zusammenhält, ist eine doppelte Fiktion: das literarische Werk eines Autors, der wie ein Phantom wirkt. Echt sind dagegen die widerstreitenden Erfahrungen und Gefühle der vier, Freundschaft und Verrat, Liebe und Hass, Leidenschaft und Gewalt, Einsamkeit und Gesellschaft. Ihre Suche nach Archimboldi wird zunehmend verzweifelter, und drei von ihnen folgen schließlich einer vagen Spur, die in die mexikanische Grenzstadt Santa Teresa führt. Der Leser ist am Schauplatz der Verbrechen angekommen.

Den Faden der Erzählung nimmt im zweiten Teil eine Nebenfigur auf, der Philosophiedozent Amalfitano. Er versucht, die Welt zu lesen, doch er versteht die Zeichen nicht mehr und befürchtet, den Verstand zu verlieren. Zusätzlich gequält wird Amalfitano von der Sorge um seine Tochter, denn fast täglich werden ermordete Frauen in der wüsten Umgebung von Santa Teresa gefunden.

Auch Oscar Fate ist zunehmend beunruhigt von Zeichen, die er nicht versteht, die aber eine stetig näher kommende Gefahr signalisieren. Der afroamerikanische Reporter der Harlemer Zeitung "Schwarzer Morgen" soll aus Santa Teresa über einen Boxkampf berichten, doch als eigentliches Thema erkennt er die Serie der Frauenmorde. Seine Redaktion ist jedoch nicht interessiert, und Fate kehrt überstürzt zurück nach New York - dem Anschein nach noch rechtzeitig, um sich und Amalfitanos Tochter außer Gefahr zu bringen.

"Der Teil von den Verbrechen" ist das Herzstück des Gesamtwerks. 108 Fälle beschreibt Bolaño - sachlich wie ein Gerichtsmediziner. Begleitet werden diese Berichte mit ihrer nüchternen Grausamkeit von den vergeblichen Versuchen, die Verbrechen aufzuklären oder ein Muster darin zu erkennen, das Unbegreifliche zu verstehen. So wie die wenigen nicht gleichgültigen mexikanischen Polizisten, die Journalisten oder der Profiler aus den USA folgt der Leser einer Vielzahl von Geschichten, Lebensläufen und Spuren, die im Nichts enden, sozusagen in der Wüste. Wie in Ciudad Juárez.

Überraschend ist der finale Teil, denn es geht um das Leben des Schriftstellers Archimboldi alias Hans Reiter. Eine Parsifal-Geschichte, die dorthin führt, wo der Tod im 20. Jahrhundert zu Hause war. Reiter erlebt Gräuel des Zweiten Weltkriegs, er wird selbst zum Mörder an einem Schreibtischtäter und beginnt in der Nachkriegszeit seine kuriose literarische Karriere. Dass und wie ihn sein Lebensweg nach Santa Teresa führen wird, ist eine überraschende, aber konsequente Pointe Bolaños.

"Wo wir auch gruben, tauchten Knochen auf", heißt es im letzten Teil. Tatsächlich ist dieser Satz so etwas wie die Essenz eines Buches, das sich in seiner Vielzahl von Geschichten und Personen kaum erfassen lässt. Bereits der Titel "2666" bleibt ein Rätsel. Bolaño selbst schrieb einmal in anderem Zusammenhang: "Mir träumte, ein Wirbel gespenstischer Zahlen sei alles, was drei Millionen Jahre, nachdem die Erde aufgehört hatte zu existieren, von den menschlichen Wesen übrig geblieben sei."

"2666" ist eine Archäologie des Schreckens, ein Buch über die bösartige Natur des Menschen. Ciudad Juárez wird zum Ort, wo sich die dunklen Seiten des Menschen unbeschränkt ausleben dürfen. Kurz vor seinem Tod wurde ein Bolaño-Interview im "Playboy" veröffentlicht. Auf die Frage, wie die Hölle aussehe, antwortete der Dichter: "Wie Ciudad Juárez, unser Fluch und unser Spiegel, der beunruhigendste Spiegel unserer Frustrationen, unserer infamen Interpretation der Freiheit und unserer Sehnsüchte."

Im fünften Buch von "2666" entdeckt Archimboldi während des Zweiten Weltkriegs im transsylvanischen Schloss des Grafen Dracula einen Geheimgang, der hinter die Spiegel führt. Er wird Zeuge einer Liebesszene, die größte Lust und Gewalt offenbart. Der Voyeur ist nicht abgeschreckt, sondern erregt.

"2666" ist ein Spiegel, in den wir lieber nicht schauen, weil wir den Mr. Hyde ins uns nicht sehen wollen. Ein verstörendes Kunstwerk. Und ein großes.

Roberto Bolaño: 2666. Aus dem Spanischen von Christian Hansen, Carl Hanser Verlag, 1096 Seiten, 29,90 Euro