Im Cruise Center ging es fast wie bei einem Volksfest zu. Fans lauschten, wie Funke und der Rezitator Rainer Strecker die ersten Kapitel aus der “Tintenherz“-Trilogie lasen.

Hamburg. Das erste Wochenende des Harbour Front Literaturfestivals bewirkte Dreierlei: erstens die Einsicht, dass der Hafen ein ausgezeichnetes Festivalgelände abgibt - alles ist fußläufig zu erreichen und lässt das Herz vor heimatlichem Panoramaglück hüpfen. Zweitens das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn man nicht auf einer der mit Bestsellerautoren und Newcomern besetzten Lesungen unterwegs sein sollte. Und dann die Frage, warum es dieses Festival nicht schon viel früher gegeben hat.

Am Freitagabend in der Katharinenkirche überzeugten nicht nur der fabelhaft schreibende und mitreißend vortragende Foodstylist Stevan Paul, der sterneküchenerfahrene "Tatort"-Schauspieler Gregor Weber und der bekennende Genießer Hellmuth Karasek mit Texten rund um die lukullischen Freuden. Auch die "Hamburger Weißwurst" (mit Hering!) fand sich auf dem Teller der tafelnden Zuschauer sowie in einem Chanson als musikalischer Zwischengang bestens aufgehoben. Der Appetit kommt beim Zuhören - auf Matjes, Sauerfleisch, rote Grütze und einen literarischen Nachschlag.

Karasek löste diesen Appetit am Folgeabend ein: im ausverkauften Maritimen Museum. Auch hier drehte sich alles um Genuss und Verdruss: beim Lieben. In seinem neuen Buch "Ihr tausendfaches Weh und Ach" (erscheint in Kürze) verrät Karasek "Was Männer von Frauen wollen". Ein lehrreicher Abend, keineswegs (nur) ein chauvinistischer: "Freud hat gesagt, Frauen haben Penisneid. Da lachen ja heute die Hühner!", befand Karasek, um nachzuschieben: "Aber wahr ist es trotzdem. Wer heute keinen Penis hat, wird immer noch schlechter bezahlt." In seiner Kulturgeschichte des Liebens verknüpft er Seehofer mit Billy Wilder, rezitiert Goethe und "Hänschen Klein" und befindet, Othello sei "ein solcher Drecksack". Das schönste Zitat lieferte ihm Nestroy: "Die Frauen haben's gut. Sie rauchen nicht, sie trinken nicht - und Frauen sind sie selber."

Schreibende Frauen, die mit schlechter Bezahlung kein Problem haben dürften, standen dann am Sonntag im Mittelpunkt: Judith Hermann las eine der fünf Erzählungen aus ihrem neuen Buch "Alice", in denen je ein Mann aus dem Umfeld der Titelfigur zu Tode kommt. Die Plüschpracht in Schmidts Tivoli kam an diesem sonnigen Morgen etwas unrasiert daher. Und die Autorin tat alles, um bloß keine Sentimentalität aufkommen zu lassen: Flüssig las sie, ihre Satzmelodie schwang sich über jeden Punkt hinweg, und aus ihren Auslauten grüßte ein diskreter Berliner Tonfall. Ulrich Greiners Fragen ließ sie charmant ins Leere laufen. Nein, sie plane ihre Themen nicht, nein, sie habe nie darüber nachgedacht, wie ihre Bücher ohne die Raucherkultur wären, nein, sie denke beim Schreiben nicht an die Leser: "Es gibt doch so viele! Ich muss mit meiner Geschichte ganz allein sein, bis sie durchgestanden ist."

Im containerbunten Cruise Center ging es dagegen fast wie bei einem Volksfest zu. Cornelia Funkes jugendliche und nicht mehr ganz so jugendliche Fans klatschten ihren Auftritt förmlich herbei. Andächtig lauschten sie, wie Funke und der Rezitator und Rainer Strecker wechselweise die ersten Kapitel aus der "Tintenherz"-Trilogie lasen. Dabei erweckten die beiden mit mal bedrohlich hauchenden und mal qiekenden Stimmen ein ganzes Kabinett an skurrilen Figuren in einer Farbigkeit zum Leben, dass sich die Hörer nicht im Cruise Center, sondern im Kino wähnten.

Auch Funkes zweite Lesung heute ist fast ausverkauft. Obwohl die Alternativen verlockend sind: Das "Titanic"-Festkomitee tagt im St.-Pauli-Theater (20 Uhr), James Frey liest um 21 Uhr im Uebel & Gefährlich, Simon Beckett zeitgleich im Hamburg Cruise Center, Feridun Zaimoglu auf der "Cap San Diego", François Lelord ist um 20 Uhr im Imperial-Theater "Auf der Suche nach dem Besten im Leben".