In seinem neuen Roman beweist Tim Parks erneut seine Meisterschaft. Morgen liest er auf der “Cap San Diego“.

"Alkohol am Abend ist ritueller Ersatz für das, was nicht passiert. Aber was?" Eine Notiz, die John am Rand eines Artikels mit der Überschrift "Kybernetik und Wirbellose" entdeckt. Alle Bücher im Regal seines Vaters, Albert James, sind voll mit solchen Randbemerkungen, die offenkundig wenig mit deren Inhalt zu tun haben. Dem Sohn, ein Wissenschaftler mit Zukunft, kommt es seltsam vor, dass der Vater seine anthropologischen Studien nicht kontinuierlich weiterverfolgt, sondern sich mit Marginalien in Büchern und Schriften anderer aufgehalten hat.

Die erregte Erwartung, die sich gemeinhin beim Lesen der Romane von Tim Parks einstellt, sie lässt auch diesmal nicht auf sich warten. Erneut beweist der Autor seine Meisterschaft, die Abgründe in den Beziehungen einer Familie geradezu detektivisch ans Licht zu bringen. Federleicht konstruiert er einen Spannungsbogen, der es dem Leser schwer macht, das Buch, bevor er an dessen Ende angelangt ist, wegzulegen. Zweifellos besteht darin der Erfolg des englischen Schriftstellers, der seit vielen Jahren in Verona lebt und arbeitet. Seine angelsächsischen Wurzeln kommen ihm zugute. Denn er produziert Unterhaltung, die in England bekanntlich nicht einen Hauch von Missbilligung erfährt. Bei uns aber, so anerkennend sich die Kritik über seine Romane äußert, schwingt immer ein kleiner Tadel mit, der dem Banalen und Rührseligen gilt. In der Tat findet sich bei Parks beides, grad so wie im richtigen Leben. Dass es sich jedoch um einen guten Autor handelt, der seine Geschichten kunstvoll baut, zeigt sich auch in diesem Buch.

Wieder einmal ist ein Familienmitglied gestorben. War es im Roman "Schicksal" der Sohn, so ist es jetzt der Vater. John, der in London lebt, erhält aus Indien den Anruf seiner Mutter Helen, die ihn über den Tod von Albert James informiert, von dem er viel zu wenig weiß. Er nimmt das nächste Flugzeug nach Delhi, wo die Mutter in einem Krankenhaus die Ärmsten behandelt. Ihr Sohn scheint für beide Elternteile keine große Rolle gespielt zu haben. So weit der grobe Rahmen.

Für die Figur Albert James hat der Autor Anleihe bei Gregory Bateson genommen. Wenngleich dieser herausragende Anthropologe bis zuletzt erfolgreich publizierte, so plagten ihn ebenso große Zweifel wie Parks Romanfigur Albert.

Wer sich mit Gregory Bateson bisher nicht beschäftigt hat, bekommt Lust, es nach der Lektüre dieses Buchs zu tun. Der Leser glaubt wie John, dessen Vater müsse ein unglücklicher Mensch gewesen sein. Doch während der Trauerfeier erscheint er als einer, der voller Empathie im wärmsten Kontakt mit verschiedenen Rednern gestanden hat. Die Erinnerung an ihn gleicht der an einen strahlenden Helden, eine Sicht, die John fast aus der Bahn wirft. Auch die Mutter Helen, eine immer noch schöne Frau in den frühen Fünfzigern, kann ihren Sohn gar nicht schnell genug wieder zurück nach London schicken. Ihre bedingungslose Liebe gehört ihrem Mann über dessen Tod hinaus. Einiges wird John dennoch in Erfahrung bringen, doch das Rätsel der Existenz seines Vaters wie auch seiner Mutter kann er nicht lösen - so wenig wie das einiger Menschen in Indien, denen er zum Teil sehr nahekommt, doch stets auf eine seltsam flüchtige Weise. Letztendlich aber wird ihm das fremde Land nicht exotischer erscheinen als das Streben seiner Eltern.

Tim Parks liest morgen auf der "Cap San Diego" (21 Uhr, 12 Euro)