“Hätten Sie mal die Uhrzeit?“ - “Welche denn? Die von gerade eben oder die von demnächst?“ - “Kommen Sie, wie spät ist es?“

"Wer bestimmt, ob es zu spät ist? Wenn Sie Ihr Leben leben wollen, fangen Sie doch sofort an, dafür ist es nie zu früh."

Der Fremde, den ich nach der Uhrzeit gefragt hatte, besaß lachende blaue Augen. Sie wurden heller zur Mitte hin, sie musterten mich mit Ernst und Wärme. Ich setzte mich zu ihm. Wir sahen dem Michel-Schatten beim Wandern zu.

"Ich war Zeitmacher", sagte er irgendwann leise. "Ich habe eine beliebige Zeit genommen und eine Uhr um sie herum gebaut. Ein krisenfester Beruf, dachte ich: Zeit gibt es immer, so wie den Tod und den Hunger; Menschen brauchen Uhren und Särge und Brot."

Ich dachte an all die Uhren der Stadt, an jedem belebten Platz wird einem ungefragt die Gegenwart mitgeteilt. Kurz verstieg ich mich in der Idee, es gäbe keine Zeitangaben mehr und jeder würde essen, schlafen, beten und arbeiten, wann er will. Wie die Welt wohl dann aussähe?

"Inzwischen haben Menschen Handys statt Uhren, um ihre Existenz zu vermessen", flüsterte der Zeitmacher, "... und das, obwohl ich mich getäuscht habe. Die Zeit gibt es nicht." Er streckte seine Hand aus und bedeutete mir, dasselbe zu tun. "Spüren Sie einen Fluss der Zeit? Nein. Weil sie sich nicht bewegt. Nur wir bewegen uns in ihr. Wir werden hineingespült in die Ewigkeit, in das andauernde Jetzt, absolvieren eine Abfolge von Ereignissen, und fallen wieder heraus. Das, was wir Zeit nennen ..." - er tippte auf seine Armbanduhr - "ist nur ein Metermaß, um unsere Schritte in der Ewigkeit zu berechnen. Aber sie hilft kein bisschen beim Leben weiter."

Er strich über meinen Ehering. "Wann haben Sie geheiratet - um welche Uhrzeit?" Ich wusste es nicht. Aber an den Moment erinnern Sie sich. Als ob es gestern gewesen ist, ja?" Ja. "Sehen Sie, Uhren bedeuten also gar nichts. An welche Augenblicke wir uns erinnern, gleich in welcher Stunde, das ist alles, was von unserem Besuch in der Zeit übrig bleibt." Er stand auf, bereit, in meiner Erinnerung zu verschwinden. "Es war übrigens halb vier, als Sie fragten", sagte er höflich. Neulich in der Ewigkeit, also.

Unendlichkeit in ihrer Hand Wie Eva Adams Zeiten auf den Kopf stellt, erzählt Gioconda Belli aus ihrem Schöpfungsroman, Do 10.9., 20.00, Flussschifferkirche (U Baumwall), Kajen/Hohe Brücke, 12.-, www.harbour-front.de , www.flussschifferkirche.de

Nina George schreibt jede Woche in LIVE und liebt Hamburg.