Als Stephan Thome, 37, bei Suhrkamp in Berlin las, saß am Tisch ein jung wirkender Mann mit den wissenden Augen eines Kindes, das graue Haare hat. Ein genetisches Erbe, aber auch symbolisch für diesen Autor.

Hamburg. Wer seinen Roman liest, ein furioses Werk zur Geschlechterproblematik unserer Zeit, stockt manchmal und fragt sich: Woher weiß der junge Mann das alles? Wie kann er Details und vor allem Gefühle so gut schildern, als habe er sie in einem langen Leben viele Male erlebt und durchlitten?

Ein Debüt von solcher Reife hat es in der deutschsprachigen Literatur lange nicht gegeben. Hier schreibt einer, der das Leben mit seinen vielfältigen Verletzungen kennt. Das hat er punktgenau platziert vor dem Hintergrund der derzeitigen gesellschaftlichen Situation, mit Arbeitslosigkeit für Akademiker, seriellen Beziehungen und Scheidungen, schwieriger Teenagerbegleitung und trotzdem fortwährender Jagd nach dem Glück.

Thomas fühlt sich in Berlin zu Höherem auserkoren, doch seine Karriere als Historiker scheitert. Er flieht aus der Stadt, verlässt seine überlegen-spöttische Geliebte, kehrt nach Bergenstadt an der Lahn zurück. Dort wird er Gymnasiallehrer, ein Schüler seiner Klasse ist der 16-jährige Daniel, Sohn von Kerstin. Die ist noch nicht lange alleinerziehende Mutter, gerät immer neu in Konflikt mit dem Pubertierenden und versorgt nebenher noch mit hohem Zeitaufwand ihre demenzkranke Mutter. Wer die Realität nicht langweilig findet, nur weil sie wahr ist, bekommt in dem Roman viel davon geboten.

Liebe und Einsamkeit, Schuld und Sühne. Was archaisch anmutet, ist ganz real im Unterbewusstsein des Menschen, eines verhältnismäßig jungen evolutionären Geschöpfs.

Kerstin wurde aus ihrer Ehe mit einem Rechtsanwalt, dem Vater von Daniel, plötzlich herausgehebelt. Zwei Menschen in den Vierzigern, die Erfahrungen haben, aber einsam sind. Bergenstadt "Grenzgang"-Fest in jedem Sommer führt sie zusammen. Kerstin hat sich mehr oder weniger in ihre Lage geschickt, ist sogar bereit, mit einer Freundin aus dem Dorf einen Swingerklub zu besuchen, um überhaupt noch mal Erotik und vielleicht Sex zu finden. "Und Tage gibt es, da glaubt sie, den Verstand zu verlieren - wie im Handumdrehen, als hätte sie nie einen besessen."

Dass sie auf dem schlüpfrigen Parkett ausgerechnet auf Thomas trifft, den Lehrer ihres Sohns, führt zum Schock, wird aber hingenommen. Man vereinbart Schweigen. Thomas war dort, weil eine Internet-Bekanntschaft ihn darum gebeten hatte. "Ein Spiel für Verlierer", hat er erkannt, "aber besser als Einsamkeit."

Was an dem Buch ungemein gefällt, ist die Genauigkeit, mit der diese zwei Menschen, beide mit dem Rücken zur Wand und vom Leben frustriert, geschildert werden. Wie leicht ist es, in die Depression abzurutschen, aber weiter zu funktionieren. Wie schwer ist es, zielgerichtet zu handeln, selbst wenn man es will. Die Gefühle funken dazwischen, das reduzierte Selbstwertgefühl blockiert. Beide müssen cool sein, obwohl sie es gar nicht wollen. Aber die emanzipierten Rollen erfordern es. Thome, im hessischen Biedenkopf aufgewachsen, hat das präzise erfasst.

Stephan Thome: "Grenzgang". Suhrkamp, Frankfurt 2009, 454 S., 19,90 Euro.