Was gilt denn nun in der Liebe - “Gegensätze ziehen sich an“ oder “Gleich zu gleich gesellt sich gern“?

Hamburg. In Anne Michaels neuem Roman "Wintergewölbe" sind es die Gegensätze, die das Liebespaar zusammenbringen: Jean, die Pflanzen als letzte Zeugnisse einer verloren gehenden Natur sammelt, und Avery, der als Ingenieur Flüsse begradigt und die Umwelt verändert, also alles für die Zukunft plant. Die beiden begegnen sich in Kanada im trockenen Bett des umgeleiteten St.-Lorenz-Stroms. Sie erzählen sich Geschichten aus ihrer Kindheit, über ihre Familien, und sie glauben, im jeweils anderen die wahre Liebe gefunden zu haben. Die beiden heiraten.

Jean folgt Avery in den Sudan, wo er verantwortlich ist für einen Staudammbau, der die Umleitung des Nils und die Umsetzung des Tempels Abu Simbel nach sich zieht. Die Figuren müssen zersägt und an anderer Stelle wieder zusammengesetzt werden, doch sie verlieren dabei ihre Aura. Der Tempel, der für die Ewigkeit gedacht war, ist am neuen Ort nur noch modelliertes Gestein.

Jean beobachtet die Natur, die brüllende Hitze, die Arbeiter und ihre Nubier-Frauen, die ein einfaches Leben führen, das sich auf Jahrtausende alte Traditionen stützt. Sie erzählt vom Markt in Wadi Halfa, wo "jede menschliche Laune einen Platz gefunden hatte". Dann wird Jean schwanger. Später fühlt sie sich für den Tod eines Jungen verantwortlich. Ihr Baby stirbt bei der Geburt, und bald darauf geht auch die Ehe von Jean und Avery zu Ende.

Zurück in Toronto flieht Jean zu einem Straßenkünstler, einem Juden, der im von den Deutschen verwüsteten Warschau aufgewachsen ist. Auch mit ihm erlebt sie eine Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau, von Annäherung und Anderssein. Am Ende findet sie zu Avery zurück.

Anne Michaels Debüt "Fluchtstücke" erzählte von der Liebe als einziger Kraft, die die Menschen vor Schrecken rettet, und wurde vor dreizehn Jahren ein Bestseller.

Auch in "Wintergewölbe" besiegt die Liebe Schmerz und Verlust ohne dass man beim Lesen je den Eindruck hätte, es sei kitschig. Dieser Roman zeigt echte Menschen mit Widersprüchen und Zweifeln. Er zeigt aber auch, was wir verlieren, wenn wir Vergangenes einfach vergessen.

Anne Michaels: "Wintergewölbe". Berlin Verlag, 351 Seiten, 22 Euro.