Das gibt es ja gelegentlich, Halbgeschwister, die von der Existenz ihrer Brüder und Schwestern nichts wissen und es auch niemals erfahren.

Der junge kanadische Autor Nicolas Dickner hat - ausgehend von dieser Grundidee - einen Abenteuer-, Großstadt- und Entwicklungsroman geschrieben, der lebendig, bildkräftig und ein wenig rätselhaft von der Rastlosigkeit und Unentschiedenheit heutiger junger Menschen erzählt, auch wenn die Geschichte in den Jahren zwischen 1989 und 1999 spielt.

Tausende Kilometer voneinander getrennt und doch - ohne es zu wissen - derselben Familie angehörig, wachsen drei Jugendliche auf, zwei Söhne und eine Nichte des ruhelosen Matrosen Jonas Doucet. In Dickners Debüt "Nikolski" führen ein Kompass, der nicht wirklich nach Norden zeigt, und einige zerfledderte Landkarten diese drei auf Routen, die umeinander kreisen, aber sich nie treffen. Auch ein zusammengeklebtes "dreiköpfiges Buch" spielt mit, das ebenso aus drei Teilen besteht wie der "Nikolski"-Roman mit seinen drei Hauptfiguren. Man kann Spaß haben an all den Doppelbedeutungen, denen man im Buch begegnet. Dickner hat geradezu choreografisch Motive und Handlungsstränge verknüpft. Trotzdem gelingt es ihm, schwerelos und kurzweilig über die vertrackten Leben junger Erwachsener zu erzählen.

Orientierungslos und zerrissen wie Karten und Kompass sind die drei Protagonisten. Es geht durch Kanada und Südamerika, doch für einige Jahre wohnen sie gleichzeitig im selben Quartier in Montreal. Jeder von ihnen ist mit nur einem Elternteil aufgewachsen und sucht nach einem Zuhause. Sie sind moderne Nomaden, Zeitreisende, die nie und nirgends anzukommen scheinen. Nicht nur der Kompass weist nur ungenau die Richtung, auch die Lebensentwürfe schrammen an der Zielgenauigkeit vorbei. Man versucht, sich im Leben zurechtzuruckeln.

Jeder der drei lebt in seiner eigenen Welt, zu der sie nur Zugang durch Landkarten oder kartografische Instrumente finden. Sie sind Eigenbrötler, haltlos unter vielen Menschen oder inmitten einer Großstadt. Sie umgeben sich mit Dingen, die nicht gebraucht werden, wie die alten Bücher im Antiquariat, die niemand kaufen will.

Dort, in Montreal, arbeitet der namenlose Erzähler, eine der Hauptfiguren. Einzige Erinnerung an seinen Vater ist der Kompass, der auf den winzigen Ort Nikolski in Alaska verweist. Halbbruder Noah ist der Sohn einer Indianerin, die auf einer endlosen Reise in Kanada umherzieht. Als Noah nach Montreal aufbricht, nimmt er ein Buch mit, das auf geheimnisvolle Weise mit seiner Herkunft zusammenzuhängen scheint. Joyce wollte eigentlich Piratin werden, doch jetzt jobbt sie tagsüber in einem Fischgeschäft und klaut nachts entsorgte Computerteile aus Mülltonnen, um sich daraus Geräte für die Herstellung von Kreditkarten zu bauen. Mit deren Hilfe geht sie auf Beutezug. Eine moderne Piratin also.

Noah verliebt sich und wandert mit seiner Frau und seinem Sohn für einige Zeit nach Venezuela aus, bevor er nach Montreal zurückkehrt. Joyce setzt sich ab in die Karibik. Nur der Buchhändler bleibt, wo er ist. Sein Kompass allerdings geht kaputt. Und er verkauft das Antiquariat.

Wie an den alten, so geht es auch an den neuen Lebensmittelpunkten um Nomadentum, Sesshaftigkeit, Entwurzelung und kulturelle Identitäten. Zwischen den Figuren entwickeln sich prächtige Spiegelungen. Das liest sich leicht und flüssig. Auch wenn sich am Ende manches Rätsel nicht aufklärt.

Nicolas Dickner, "Nikolski", Frankfurter Verlagsanstalt, 303 S., 19,90 Euro