Die Autorin Inge Jens entdeckt nach 57 Jahren Ehe ihre Geschichte noch einmal neu. Ihr Mann, der berühmte Professor Walter Jens, leidet an Demenz - er ist noch da, aber nicht mehr hier. Irene Jung sprach mit Inge Jens über ihren langen Emanzipationsweg.

Für die breite Öffentlichkeit ist sie "die Frau von Walter Jens". Das empfindet sie auch gar nicht als kränkend oder herablassend. Sie habe sich, meint sie, ja selbst nie sehr intensiv für sich interessiert und sich nie mit sich selbst beschäftigt. Inge Jens weiß, dass sie für Literaturwissenschaftler und Historiker längst in ihrem eigenen Licht steht und nicht in seinem Schatten.

Erst jetzt, mit 82 Jahren, hat sie ein "plötzliches Vergnügen am eigenen Leben" entdeckt. Es machte ihr Spaß, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit zu konfrontieren, ihre Erinnerungen noch einmal zu ordnen und sie aufzuschreiben.

Im Selbstgespräch, notgedrungen. Denn sie ist jetzt allein. "Nach 57 Jahren nie abreißender Gespräche bin ich ... ohne den Menschen, mit dem sich über alles auszutauschen mir so selbstverständlich war wie Essen und Trinken oder Atmen", schreibt sie. Ihr Mann Walter Jens leidet an Demenz.

Er ist zwar da, er lebt im gleichen Haus, aber nicht bei ihr. "Als Partner, als ein verstehendes, Antwort gebendes oder gar widersprechendes Gegenüber gibt es ihn nicht mehr", sagt Inge Jens.

Mit diesem Schicksal will sie nicht hadern. Natürlich tauchte die Frage auf: "Warum trifft es gerade uns?" Aber zutreffender für ihre Lebenserinnerungen findet sie die Frage: "Warum ist es gerade mir so lange so gut gegangen?"

Inge Puttfarcken, 1927 in Hamburg als Ältestes von vier Geschwistern geboren, erlebte eine unbeschwerte Kindheit. Erst nach dem Krieg wurde ihr bewusst, dass es eine Jugend unter dem Hakenkreuz war. In ihrer großen, sehr bildungsbewussten Familie wurde nicht indoktriniert, schreibt sie, aber auch nicht hinterfragt. Die NS-Zeit sei eine "unreflektiert gelebte Realität" gewesen.

Was stärker prägte, waren offenbar die Grundsätze protestantischer Bescheidenheit: etwas leisten, aber nicht damit angeben. Pflichten erfüllen, aber nicht auffallen. Was die junge Inge wollte, wofür sie schwärmte, bleibt blass. Eine Inge ohne Eigenschaften. Wie ein leeres Gefäß, das andere später erst gefüllt hätten.

Diese Vorstellung würde zwar zu ihrer Bescheidenheit passen, nicht aber zu ihrem Ehrgeiz. Nach dem Krieg holte sie das Abitur nach, begann 1947 mit dem Philosophiestudium. Sie beschreibt diese Phase als Zeit ungeheuren Nachholbedarfs.

"Zum ersten Mal lernte ich Menschen kennen, die in der NS-Zeit Verfolgung und Repressionen erlitten, die im Widerstand gearbeitet hatten", schreibt sie. Sie befragte sich selbst. Hätte es ihr nicht auffallen müssen, dass Schilder den Juden das Sitzen auf Parkbänken verboten? Oder dass jüdische Läden verschwanden? "Ja, natürlich", sagt sie. "Man mag es gar nicht sagen, aber es ist wahr: Ich habe es nicht mitgekriegt."

Als sie 1949 von Hamburg nach Tübingen ging, begann das Studium generale ihres Lebens - das Fach Liebe inbegriffen. Ihre Zimmerwirtin in der Breuningstraße hatte nämlich noch einen weiteren Untermieter aus Hamburg. Er war Assistent am klassisch-philologischen Seminar. Sein Name: Walter Jens.

Inmitten des schwer schwäbelnden Umfelds freundeten sich die beiden Nordlichter schnell an. Jens lebte in der Dachkammer, umgeben von Büchern. Fast ein spitzwegsches Idyll: Er brachte Inge Griechisch bei, sie kümmerte sich als Gegenleistung um das Heizen seines Kohleofens. Hatte er zwei linke Hände?

Inge Jens lacht. "Ja, die hatte er", sagt sie. Seine Mutter hatte ihm nicht gesagt, dass man möglicherweise auch zwei linke Hände benutzen kann. Er war kein Heimwerkertalent. Er hatte andere Talente."

Und wer hat nun wen wachgeküsst? "Wir sind zu Weihnachten 1949 gemeinsam nach Hamburg zu unseren Familien gefahren, und im Zug haben wir darüber gesprochen, ob wir nicht heiraten sollten. Ich glaube, da haben wir uns gar nicht geküsst. Die Reihenfolge, in der dann was passierte, kriege ich nicht mehr zusammen."

1951 heiratete das junge Paar. Ernst Rowohlt, Walter Jens' Verleger und guter Freund, schärfte der frischgebackenen Schriftstellerfrau ein: Wenn ihr Mann je auf einen Verriss antworten wolle, müsse sie ihm "unter Einsatz aller Mittel, einschließlich der ehelichen Verweigerung", den Stift wegnehmen. Auf Verrisse antworte man nie, niemals!

Inge Jens, aufgewachsen in einer großen Familie, wünschte sich mindestens drei oder vier Kinder. Sie wollte dann "eines Tages" in einen Beruf zurückkehren, der möglichst Zeitgeschichte und Literatur verbinden sollte: "Mich faszinierten Zeugnisse gelebten Lebens - Briefe, Berichte, Tagebücher, Biografien."

Es ließ sich gut an. Ernst Rowohlt unterstützte sie spontan in ihrem Plan, über expressionistische Literatur zu promovieren: "Schreiben Sie! Sind doch alle meine Autoren gewesen." Er öffnete ihr nicht nur den Zugang zu den Texten. Er konnte auch wunderbar rowohltsche Anekdoten über Autoren wie Heym oder Kafka erzählen.

Nach der Promotion übernahm sie 1959 - anstelle von Walter Jens, der lieber selber schreiben wollte - die Edition der Briefe von Thomas Mann an den Kölner Germanisten Ernst Bertram, der dem George-Kreis und dem Schriftsteller Stefan George nahestand. In Zürich wurde die 33-jährige Inge Jens der 77-jährigen Katia Mann vorgestellt.

"Sie war eine kleine, energische Frau, die mir ganz anders entgegentrat, als ich gedacht hatte", sagt Inge Jens. "Sie hat sicher gemerkt: Da kommt nicht jemand, der mal wieder an Tommy interessiert ist, sondern dass ich an ihr selbst interessiert war. Vielleicht hat ihr das gutgetan."

Einige Sätze von Katia Mann prägten sich tief ein. Zum Beispiel dieser: "Rausgeschmissen hat man uns; einfach rausgeschmissen - und das nach einem ehrenwerten Leben." Inge Jens hatte die Emigration als eine heroische Tat bewundert. Jetzt verstand sie, dass es für Katia Mann eine tiefe Kränkung gewesen war.

Mit derselben Entschiedenheit bekräftigte die Witwe des Literaturnobelpreisträgers, dass dessen erschreckend gefühllose Reaktion auf die Nachricht vom Selbstmord seines Sohnes Klaus nicht aus der Edition gestrichen werden sollte: "So war er", sagte Katia Mann. "Das bleibt."

Lebenspläne sind fragile Gebäude. Das wusste Inge Jens mittlerweile selbst. 1954 kam ihr erster Sohn Tilman zur Welt, von dem sein Vater noch im Entbindungszimmer sagte, er sehe "ganz ungeistig" aus. Tilman war kerngesund - aber die folgenden beiden Schwangerschaften endeten mit Totgeburten.

Nur sehr langsam fügte sich Inge Jens in die bittere Erkenntnis, dass ihr Traum von der großen Kinderschar ein Traum bleiben müsste. "Ich war verzweifelt", sagt sie. Der zielstrebige "Verstandesmensch" in ihr rebellierte. Sie habe sich als "Versagerin" gefühlt.

Als sie 1964/65 wieder schwanger war, musste sie monatelang liegen. Noch einmal eine Zeit quälender Unsicherheit. 1965 wurde Sohn Christoph geboren - gesund.

Walter Jens, sagt sie, sei "ein sehr zugewandter Vater gewesen. Viel einfallsreicher bei der Beschäftigung mit seinen Kindern als ich. Ein Naturtalent im Umgang mit Kindern, und das ist er heute noch, trotz seiner Krankheit." Nur wenn es hieß: "Papi schreibt", wussten die Söhne, dass ihr Vater zeitweilig gedanklich auf einem anderen Stern war.

Die 68er-Studentenbewegung erlebte Inge Jens nur am Rande mit. Sie hatte zwar noch einmal ein Pädagogikstudium begonnen (weil sie das Gefühl hatte, dass sich die Erziehung weiterentwickelt habe). Aber die Studentenbewegung blieb ihr fremd. Sie war 41 und hatte als junge Mutter "andere Sorgen".

Die APO (Außerparlamentarische Opposition) hat aber, wie auch die Diskussionen um die Wiederbewaffnung und die Atomkraft, durchaus zur Politisierung des Gelehrten-Ehepaares Jens beigetragen. 1983 bezeugten Walter und Inge Jens ihren zivilen Widerstand beim Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss: Beide beteiligten sich - mit Campingstühlen und Regencapes - aktiv an den monatelangen Sitzblockaden in Mutlangen gegen die Stationierung von Pershing-Raketen. Während des zweiten Golfkriegs 1990 versteckten die Jens in ihrem Tübinger Haus zwei desertierte US-Soldaten, einen Mann und eine Frau, die sich nicht in den Irak versetzen lassen wollten. "Hätten wir die beiden fortgeschickt, wäre unser ganzes bisheriges Reden und Handeln unglaubwürdig geworden", schreibt Inge Jens. Wegen "Beihilfe zur Fahnenflucht" - einzigartig in deutschen Urteilssammlungen - wurden sie und ihr Mann verurteilt und mussten insgesamt 25 000 Mark zahlen, inklusive immenser Übersetzungskosten.

Ende der 90er-Jahre wollte sich Inge Jens endlich Katia Mann zuwenden, sie aus dem Schatten ihres Mannes herausholen. Walter Jens ließ sich anstecken. "Frau Thomas Mann" war die erste ihrer Buch-Kooperationen, 2005 folgte "Katias Mutter", und beide wurden Bestseller.

Ganz einfach war die Zusammenarbeit nicht, gibt Inge Jens zu. "Ich wollte ein möglichst minutiöses, stimmiges Porträt, er wollte ein interessantes, reizvoll zu lesendes Buch", sagt sie. "Es war ganz klar, dass wir uns auch gefetzt haben. Aber auf Augenhöhe. Und wir haben uns arrangiert."

Schon 2002 fiel ihr auf, dass ihr Mann sich veränderte. Sie merkte es am "Verlust seines entschiedenen Zugriffs", wenn er über ein Thema sprach. Zuerst schob sie es auf sein Alter. "Ich wusste nicht viel über Demenz. Demenz haben immer die anderen."

Inzwischen lebt Walter Jens in einer eigenen Welt. "Er erkennt seine Söhne nicht, aber manchmal leuchtet sein Gesicht auf, wenn sie kommen", sagt sie. "Er hängt an seiner Pflegerin, mit mir ist er als 'Grundkontaktperson' verbunden - aber er weiß nicht, wer ich bin." Sie ist überzeugt, dass er Trauer, Verzweiflung, manchmal auch Freude fühlt, wenn auch nicht mehr zielgerichtet.

Manchmal sagt er: "Da bist du ja."

Ebenso wie ihr Mann unterschrieb Inge Jens am 3. August 2006 eine "Vorsorgliche Verfügung", in der beide lebensverlängernde Maßnahmen ausschlossen für den Fall der unheilbaren geistigen Verwirrung. Also für den Fall, der bei Walter Jens inzwischen eingetreten ist.

Sie lebt mit dem Widerspruch, dass er etwas verhindern wollte, von dem er nichts mehr weiß. "Aber das Leben zu verkürzen", sagt sie, "das steht mir nicht zu."