Braucht Bachs Musik Illustration auf der Bühne? Der Kultregisseur öffnet den Raum für die eigenen Gedanken.

Kiel. Robert Wilsons Inszenierung von Bachs "Johannespassion" ist eines der Leuchtturmprojekte des diesjährigen Schleswig-Holstein Musik Festivals und wurde am Donnerstagabend, drei Tage vor der offiziellen Festival-Eröffnung, in der Kieler Oper mit Standing Ovations gefeiert. Den musikalischen Part besorgten dabei unter Leitung von Intendant Rolf Beck der Festival-Chor und das Festival-Orchester mit Gesangssolisten aus dem Meisterkurs von Alison Browner.

Der Chor, von Wilson zum Mitspielen auf der Bühne verpflichtet, legte eine Glanzleistung hin, mit Präzision, großer Textverständlichkeit und dramatischer Intensität, aber auch Gefühl für die glaubensinnigen Momente in den großartigen Chorälen. Das Orchester konnte bei der Premiere noch nicht ganz auf Augenhöhe mithalten; insbesondere die Streicher hatten anfangs Schwierigkeiten, einen homogenen Klang zu produzieren. Rolf Beck wählte im klugen Kontrast zum heruntergebremsten Bühnengeschehen überwiegend zügige Tempi. Vielleicht hätten die opernhaft bewegten Passagen noch zupackender und mancher Spannungsbogen noch zwingender gestaltet werden können - aber das kann noch werden.

Unter den Solisten überzeugte vor allem Evangelist Benjamin Bruns mit einer feinen, fast makellosen Höhe ohne überzogene Dramatik - er blieb in seiner Mönchskutte ein Erzähler, der bewusst die Verklärung des Gekreuzigten betreibt und mit melancholisch feinem Lächeln begleitet - es erinnert unwillkürlich an Gründgens' Mephisto. Im Gedächtnis bleiben auch Dominik Köningers Jesus, der kräftige Tenor von Eric Stoklossa, der Wahrheit suchende Pilatus von Christian Oldenburg und der ausfüllend warme Alt von Sophie Harmsen.

Robert Wilson setzt auch in seinem Passionsspiel auf höchste Reduktion der Bilder, seinen stilisierten Gestenkatalog und emotional aufgeladene Lichteffekte. Sein Chor - ganz in Weiß und blass geschminkt - ist eine schwankende Masse: mal aufgehetzte Kreuzigungsfanatiker, mal verinnerlichte Gläubige. Die übrigen Figuren erinnern stark an Darstellungen auf verkitschte Heiligenbildchen; aber Wilson illustriert ja auch kein Originalgeschehen, sondern bebildert die Lesung einer Legende, die längst ritualisiert verbreitet wird. So schafft er Raum für die eigenen Gedanken der Zuschauer; er drängt keine Deutung auf, sondern stellt Fragen an Bruchstellen der Passions-Geschichte - zum Beispiel bei Petrus' ängstlicher Verleugnung Jesu oder Pilatus' hilflos-zynischer Frage: "Was ist Wahrheit?"

Drei schwarz gekleidete Kriegsknechte, fast nur Schattenrisse in afrikanisch anmutender Maskerade, repräsentieren die institutionalisierte Gewalt. Und Jesus ist am Ende eigentlich schon Opfer seiner späteren Verklärung und dabei kaum als Gründerfigur einer Weltreligion auszumachen. Auf der Bühnenrückwand bewegen sich schwarze Balken im Schneckentempo, immer dicht vorbei an der Möglichkeit, ein ordentliches Kreuz zu bilden - beim Kreuzestod allerdings von einer blauen Leuchstoffröhre gestört, die eher chancenlos versucht, das Schwarz-Weiß dieser Bildkomposition erleuchtend zu durchbrechen.

Braucht Bachs Musik diese Bilder? Die Frage klingt angesichts eines so hochkarätig angelegten Bühnenspektakels ketzerisch. Zu Bachs Zeit waren die Bilder in jedem einzelnen Kopf überpräsent. Heute sind sie das wohl nicht mehr. Robert Wilson liefert ein dezentes Schnittmuster für religiöse Gefühle, die vielen heute fremd sind. Selbst ein Zweifler, gleichwohl als Geschichtenerzähler von der Struktur des Passionsgeschehens fasziniert, zieht er seine Zuschauer hinein, versieht dabei aber Musik und Verkündigungszweck mit großen Fragezeichen, die sich noch lange in den Köpfen drehen werden.

Weitere Vorstellungen am 11. und 14.-16. Juli, Opernhaus Kiel, jeweils 20 Uhr. Restkarten unter Tel. 0431/57 04 70