Vor 200 Jahren wurde Heinrich Hoffmann geboren. Sein Buch sorgt noch immer für Kontroversen.

Hamburg. Ein Buch über tödliche Unfälle von Kindern und schwere Menschenrechtsverletzungen an ihnen ist eines der populärsten der Literaturgeschichte. Bis heute sind 540 Auflagen in 40 Sprachen erschienen; mindestens 1000 Plagiate und Parodien eifern dem Werk nach. Offenbar kann man sich nicht sattlesen an den Schilderungen, wie ein Kind bei lebendigem Leibe verbrennt, eines verhungert und einem die Daumen abgeschnitten werden.

"Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von drei bis sechs Jahren", nannte der Autor sein Buch. Es war nicht Saddam Hussein, sondern der Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann. An diesem Sonnabend vor 200 Jahren wurde er geboren, 1894 starb er. Über seinen "Struwwelpeter" diskutieren Pädagogen, Kinderpsychologen und Literaturhistoriker bis heute.

Ist das Werk ein pädagogischer GAU, nur tragbar im bibliophilen Giftschrank? Tatsächlich warnen viele Pädagogen davor, dieses Buch heute Kindern in die Hand zu drücken: Es drohe Traumatisierung. Doch der "Struwwelpeter" und sein Autor sind weitaus vielschichtiger, als es auf den ersten Blick erscheint. Heinrich Hoffmann war kein Reaktionär, weder pädagogisch noch politisch. Er engagierte sich für Reformen, gilt als erster Vertreter der Kinderpsychologie, schrieb Theaterstücke und Gedichte. Wie kommt ein emanzipatorisch denkender Mediziner dazu, ein derart brutales Buch zu schreiben?

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war eine geduldige, gewaltfreie Kindererziehung nicht an der Tagesordnung. Denken wir an den genialen Humoristen Wilhelm Busch, bei dem der Rohrstock regiert und rebellische Kinder auch schon mal in Mühlen zerschrotet werden, wie es Max und Moritz ergeht.

Erziehung erfolgte vor allem durch moralinsaure Ermahnung und drastische Körperstrafen, durch Angst und Abschreckung. Das scheint auch den Struwwelpeter zu durchziehen. Da gibt es den Suppen-Kasper, der nicht essen will und deshalb verhungert. Paulinchen verbrennt, weil sie in Abwesenheit der Eltern mit Zündhölzern spielt. Robert wird vom Sturm davongetragen, weil er verbotswidrig im Unwetter nach draußen gegangen ist. Titelheld Struwwelpeter, der sich weder Nägel noch Haare schneiden lassen will, verkommt am Ende zur verspotteten Kuriosität. Und Friedrich quält Tiere, bis ihn ein wütender Hund ins Bein beißt. Doch in all diesen Beispielen verzichtet Hoffmann bewusst auf die elterliche Strafe - er führt den Kindern in grotesk überzeichneten Fallbeispielen nur die drastischen Folgen ihres Tuns vor Augen. Bestraft wird nur Konrad, der an den Daumen lutscht und diese schließlich abgeschnitten bekommt.

Hoffmann hatte Weihnachten 1844 eigentlich ein Buch für seinen dreijährigen Sohn kaufen wollen - und stieß in den Läden nur auf langweilige, moralische Geschichten. Er kehrte mit einem leeren Schreibheft nach Hause zurück und verfasste selber ein Buch für seinen Sohn. Es erschien ein Jahr später. Doch der schreibende Arzt und Rebell hatte eine ganze Reihe von subversiven Elementen in den "Struwwelpeter" geschmuggelt. Es ist ein raffiniert codiertes Schlüssel-Buch. So sind die abgeschnittenen Daumen eine Chiffre für die erdrückende Zensur im Biedermeier, in der die scheinbar gemütliche Ruhe im Lande von der Obrigkeit mit scharfen Repressionen erzwungen wurde.

Mit der Geschichte von den drei Knaben, die einen "Mohren" verspotten, dafür in ein riesiges Tintenfass gesteckt werden und schließlich schwärzer als ihr Spottopfer herauskommen, geißelt Hoffmann die Fremdenfeindlichkeit seiner Zeit. Und mit dem Jäger, der vom frechen Hasen überlistet wird und im Brunnen endet, schuf der Autor gar ein antiautoritäres Gleichnis: Der Schwächere (das Kind/der Bürger) wehrt sich gegen die Gewalt (des strafenden Vaters/der Behörden) und siegt. Botschaften, die damals verstanden wurden.

Doch im "Struwwelpeter" sind auch psychologische Pioniertaten eingebettet. "Hoffmann hat darin als Erster die Störungen Anorexia nervosa (Suppen-Kasper) und die Aufmerksamkeitsstörung ADHS (Zappelphilipp) bei Kindern beschrieben", sagt die Hamburger Kinderpsychologin Dörte Peters. "Und er hat als Erster eine Klassifikation von jugendpsychologischen Störungen vorgenommen." Dennoch rät Peters Eltern davon ab, den "Struwwelpeter" ihren Kindern unkommentiert zu überlassen oder vorzulesen. "Heute ist die Beziehung zwischen Kindern und Eltern eine ganz andere als im 19. Jahrhundert. Wir bemühen uns darum, nicht mehr mit angsterzeugenden Mitteln zu erziehen."

Der "Struwwelpeter" - das erfolgreichste Kinderbuch der Welt. Aber zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie am besten Ihren Kinderpsychologen.