Im Trend: "Schwarm-Intelligenz"

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Ricarda Albers

Trendtag: Wie verändert sich unsere Gesellschaft durch das Internet? Die Macht wird neu verteilt, sagt Peter Wippermann. Das birgt Gefahren.

Hamburg. Was kommt denn da auf uns zu? Eine Gesellschaft von Egoisten, die per Mausklick die Weltläufte bestimmt? Ohne Rücksicht auf Verluste? Oder lauter glückliche Individualisten in einer schönen neuen virtuellen Welt? Der Hamburger Trendforscher Peter Wippermann prognostiziert: "Die neuen Medien verändern unser Leben komplett. In allen Sparten. Wir stehen ganz am Anfang."

Heute weiß jedes Kind, wie man im Internet surft. Jeder kann auf (fast) alles zugreifen und hat dadurch einen erheblichen Machtgewinn. Warum? Weil "Schwarm-Intelligenz" entsteht. Die Macht der Mehrheit. Wie sich die Gesellschaft dadurch verändert, welche Chancen und Gefahren das birgt, darüber sprechen heute Experten beim 10. Hamburger Trendtag im Curio-Haus.

Was ist "Schwarm-Intelligenz"? Kurz gesagt bedeutet es: Die Mehrheit ist schlauer als jedes ihrer Mitglieder. In der US-Show "Who wants to be a Millionaire?" z. B. führten 91 Prozent der Publikumsbefragungen zur richtigen Antwort. Die Trefferquote beim Telefonjoker, bei dem ein einziger Experte befragt wird, betrug nur 65 Prozent.

Früher gab's hierarchische Gesellschaftsmodelle - Monarchien. In der Demokratie wird die Macht delegiert - man läßt Spezialisten entscheiden. Jetzt aber stehen wir an der Schwelle eines anderen Gesellschaftsmodells. "Inzwischen sind wir lauter Individuen, die aus Eigeninteresse heraus handeln und dadurch Massenphänomene produzieren." Per Computer. Wippermann: "Was hier entsteht, ist etwas ganz Neues, überraschend Intelligentes." "Schwarm-Intelligenz" eben. Die Wirtschaft kann sich das zunutze machen. Indem sich Firmen z. B. online bei den Konsumenten erkundigen, welches Produkt sie auf den Markt bringen sollen. Welche Farbe beliebt ist oder welche Geschmacksrichtung.

Der Begriff "Schwarm-Intelligenz" stammt aus der Tierwelt: Der Schwarm sichert das Überleben. Bei den Fischen kennt man das oder bei Vögeln. Es gibt keinen Leiter und keine Spezialistengruppen. Aber jeder reagiert auf den anderen. Damit der Clan Futter findet. Begreift, daß Gefahr droht. Sich nicht verirrt.

Beim Menschen jedoch ist das schwieriger. Die "Schwarm-Intelligenz" hat durchaus Schattenseiten. Sie kann dazu führen, daß ganze Bevölkerungsgruppen "kein Futter mehr finden" - sprich: arbeitslos werden. Nehmen wir die Reisebranche. Im Internet können Privatleute genauso wie professionelle Veranstalter ihre Ferienangebote plazieren. "Kleine Anbieter sind plötzlich im Netz genauso attraktiv wie große Hotelketten", meint Wippermann. "Nur: Jeder, der online bucht, macht jemanden in der Verwaltung eines Reisebüros arbeitslos. Darüber darf man dann nicht überrascht sein!"

Noch deutlicher wird das Phänomen am Beispiel der Aktienmärkte. "Anonymes Kapital schafft und vernichtet Arbeitsplätze." Die Kehrseite der "Schwarm-Intelligenz". Flexibel, blitzschnell, global, egoistisch: Das sind die Eigenschaften des Kapitalanlegers. Denn: "Investmentkapital, ob es sich hier oder in Singapur befindet, sucht nach hohem Profit, kommt und geht, ist dynamisch und läßt ein langfristiges Denken in nationalen Grenzen scheitern." Der Aktionär will Geld. Und die Folgen können zu Massenentlassungen führen.

Hierarchien verlieren durch "Schwarm-Intelligenz" an Bedeutung. "Was man in den Chef-Etagen großer Konzerne bereits sehen kann", sagt Wippermann. "Die Chefs werden heute so stark von den Kapitalanlegern kontrolliert, daß ihre Entscheidungsfreiheit dramatisch abnimmt." Die Macht wird neu verteilt . . .

Neue Medien schaffen neue Gesetze. Fast jeder Jugendliche hat ein Handy. Wippermann: "Wenn sie dem das wegnehmen, fällt er aus seiner sozialen Gruppe raus." Die neuen Technologien haben die Herrschaft übernommen. Ob's ein Fluch ist oder ein Segen? "Wir sind inzwischen extrem abhängig von ihnen", sagt Wippermann. "Wenn Sie das Internet für eine Zeit stillegen würden, könnten Sie das ganze Bankenwesen stark gefährden. Das Zeitungswesen übrigens auch."

Der moderne Mensch - verstrickt im Netz? Offenbar. Die Frage ist nur: Wie kann man ein Gemeinwesen so umbauen, daß es unter diesen Bedingungen gut überlebt? Wippermann greift auf einen Vergleich mit der Tierwelt zurück. Der Mensch muß unter diesen Bedingungen Flexibilität, Dynamik und Individualität betonen. Muß bereit sein, allein neue Wege auszuprobieren, aber darf den Schwarm nicht verlassen.

"Im Schwarm lebt es sich in der Mitte am sichersten", sagt Wippermann. "Aber wer sich weit an den Rand des Schwarms vorwagt, wird als erster neue Futterquellen entdecken. Der ist allerdings auch den höchsten Gefahren ausgesetzt." Das Individuum muß also bereit sein, im Schwarm verschiedene Positionen auszuprobieren. Diese Anforderung macht vielen Menschen Angst. Die High-Tech-Gesellschaft fördert Individualität und Flexibilität. "Aber zugleich", warnt Wippermann, "bedeutet das den Verlust von Geborgenheit und Sicherheit."

Wenn die Gesellschaft so stark auf Eigenverantwortung setzt, müßte sie dann nicht viel mehr in Bildung investieren? Damit jeder mehr Kompetenz hat, individuelle Wege zu gehen? "Genau da sehe ich eine Katastrophe auf uns zukommen", sagt Wippermann. "Nur die Gebildeteren werden in dieser Gesellschaftsordnung erfolgreich sein. Aber was machen wir? Wir verlangen Studiengebühren, kürzen Mittel für Schulbücher, haben zuwenig Geld für Kindergärten." Die schöne neue Welt. Überfordert sie die Menschen? Wippermann: "Sie überfordert alle, die gewohnt sind, Verantwortung abzugeben. Das ist zur Zeit die Mehrheit."