Hamburg. 16. März 1822: Eine amtliche Bekanntmachung des Grefengerichts Freyburg an der Elbe erregte ungläubiges Kopfschütteln. Die Anwohner der Außendeiche waren zwar an Kuriositäten aus fernen Ländern gewöhnt, die aus versunkenen Schiffen angetrieben werden; auch die Strandräuber waren nicht gerade als zimperlich bekannt. Doch der Inhalt dieser in Neuhaus angeschwemmten "ohne Zweifel aus einem verunglücktem Schiffe herrührenden Behältnisse" kam ihnen so unheimlich vor, dass sie den Fund freiwillig anzeigten.
Das Gericht beschrieb die Stücke so amtlich wie präzise: "sechseinhalb Mumien in Särgen, welche teilweise bunt bemalt und mit Hieroglyphen versehen sind". Auch die Art der Balsamierung - die eine Mumie war nicht so wohlriechend wie die anderen -, Leinwand und Binden, in die die Mumien eingewickelt waren, wurden sorgfältig geschildert. Bei einer "Mumie männlichen Geschlechts" rächte sich die unsaubere Arbeit der ägyptischen Einbalsamierer: Der ganze Körper sah schwarz-braun aus, "das Fleisch war eingetrocknet, jedoch noch etwas elastisch".
Weil aber niemand Anspruch auf die Fundstücke erhob, wurden die "Mumien der ältesten Art und andere Seltenheiten" wie ein arabisches Zelt und arabische Handschriften am 4. September 1822 in der Hamburger Großen Reichenstraße 28 versteigert.
Aber wie kamen die "höchst merkwürdigen Gegenstände" in die Elbe? So viel steht fest: Sie stammten von dem Segler "Gottfried", der in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1822 in der Elbmündung bei einem schweren Nordweststurm verunglückte. Das Schiff kam von Triest mit Ladung aus Ägypten: altägyptische Antiquitäten, bestimmt für die Königlich Preußischen Sammlungen in Berlin. Im Auftrag des Königs hatte der Freiherr Menu von Minutoli Ägypten bereist. 20 Prozent der Erwerbungen - die leichteren Stücke - erreichten auf dem Landweg Berlin und bildeten dort den Grundstock des heutigen Ägyptischen Museums.
Aber wo sind die anderen 80 Prozent der kostbaren Ladung? Liegt tatsächlich seit 180 Jahren metertief im Elbsand querab vor Cuxhaven ein Wrack voller ägyptischer Altertümer?
Wie mit einem Fluch beladen, geriet Anfang der 80er-Jahre die Jagd nach dem Schatzschiff "Gottfried" zu einem Streit zwischen dem Wrackmuseum Cuxhaven und dem Ägyptischen Museum Berlin. Dessen stellvertretender Direktor Joachim Karig machte sich die Suche nach Geschichte und Untergangsort der "Gottfried" zur Lebensaufgabe. Er ist sicher, mit Hilfe der Aussage des einzigen Überlebenden sowie alter Karten und Berechnungen über die Strömungsverhältnisse die Stelle auf eine Quadratmeile eingegrenzt zu haben.
Bereits vor zehn Jahren konnte ich Joachim Karig mit einem Kamerateam auf der Suche nach der "Gottfried" begleiten. An Bord des Wracksuchschiffs "Atair" fuhren wir die vermuteten Koordinaten ab. Die Schallwellen des Sediment-Echographen drangen tief in den Meeresboden ein. Starke Signale deuteten auf versunkene Wracks. Doch welches ist die "Gottfried"? Wenn man nur ein Stückchen Holz bergen könnte, ließe sich durch eine Altersbestimmung Klarheit schaffen. Das Schiff ist aus Eichenholz und wurde 1815 in Greifswald gebaut. Auch von den kostbaren Altertümern müsste noch etliches im Elbsand zu finden sein: Die im Archiv entdeckte Ladungsliste beschreibt einen tonnenschweren Sarkophag, hundert Stelen, hundert Vasen aus Alabaster und vieles mehr - insgesamt 97 Kisten voll -, außerdem die in Neuhaus angeschwemmten Mumien, die seit der Auktion verschwunden sind.
1993 führte unerwartet eine Spur nach Lübeck. Eine bisher als Fälschung angesehene Mumie im St.-Annen-Museum erwies sich in der Computertomographie als echt, und sie war in den Jahren des Schiffsuntergangs eingeliefert worden. Doch dann die Enttäuschung: die Mumie befindet sich bereits seit 1812 dort. Also wieder keine brauchbare Spur zu der verschwundenen Fracht.
Bis vor wenigen Wochen. Da machte die Ägyptologin Renate Germer im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe eine Entdeckung. Bei der Katalogisierung der altägyptischen Objekte suchte sie etwas in der Textilabteilung ein Stockwerk höher. Plötzlich fiel ihr Blick auf eine Mumienbinde und ein Kouvert, beschriftet in Sütterlin-Schrift. Sofort fiel ihr ein Name auf: Menu von Minutoli. In dem Umschlag fand sie eine Haarlocke, die sie sogleich als Mumienhaarlocke erkannte. Aufgeregt entzifferte sie die Schrift: "Haarlocke u. Stück der Binde einer weiblichen Mumie, welche der Gl. Menu von Minutoli aus Ägypten gebracht, bey Neuhaus an Land getrieben aus dem dort gestrandeten Schiffe - in Freyburg mitgenommen d. 5t. April 1822."
Germers Sensationsfund ist der erste fassbare Beweis für die versunkene Ladung des preußischen Generalleutnants. Er kann insofern weiterhelfen, weil man nun in den alten Inventarverzeichnissen des Museums nach dem Einlieferer der Haarlocke suchen kann. Wo etwas ist, kann mehr sein. Und wer weiß, was alles an unerkannten Kostbarkeiten aus der "Gottfried" auf Hamburger Dachböden schlummert . . .
Doch warum sind die Särge und Mumien von der "Gottfried" wissenschaftlich so interessant?
Renate Germer hat inzwischen herausgefunden, aus welchem Grab Minutolis Mumien stammen. Im Winter 1819/20, als der Freiherr sich am Nil aufhielt, hatten Einheimische in Luxor den Zugang zu einem tief in den Berg gearbeiteten Grab eines Hohen Beamten der Ramessidenzeit (um 1200 v. Chr.) entdeckt. In den Räumen darüber fanden sich 13 Pfostensärge aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Sie trugen neben Hieroglyphen, die man damals noch nicht lesen konnte, auch griechische Inschriften, die besagten, dass es sich hier um die Familiengrabstätte des Archonten von Theben handelt.
Fünf der Mumiensärge konnte Minutoli für den preußischen König erwerben. Eine französische Expedition hatte der Kaiserin Josephine schon zuvor einen weiblichen Mumienkopf überreicht. Die Abbildung zeigt die für jene Zeit typischen Haarlocken. Diese entsprechen der jetzt im Museum für Kunst und Gewerbe gefundenen Locke einer Mumie der "Gottfried". Die Auffindung der Särge und die heute mögliche Entzifferung der Hieroglyphen könnte Einblick geben in die multikulturelle Zeit Ägyptens im 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert.
Joachim Karig, inzwischen pensioniert, doch immer noch auf der Jagd nach der versunkenen "Gottfried", ist glücklich über den Lockenfund: "Endlich haben wir den Beweis. Die ,Gottfried' ist vor Neuhaus gekentert und hatte die Ladung an Bord. Das gibt uns neue Hoffnung. Wir jagen keinem Phantom nach!"
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