Er hat alles erreicht, was ein Popmusiker erreichen kann, und blieb doch immer der Beatle Paul McCartney. Auch an seinem 70. Geburtstag.

Hamburg. Eine zu gute Stimme kann einen Popsänger ruinieren. Elvis Presley, Ray Charles, Tom Jones - sie alle haben den Fehler gemacht, zu wenig auf das zu achten, was sie singen, im Glauben, es komme sowieso nur darauf an, wie sie es singen. Das Ergebnis ist Routine und Manierismus. Dass Paul McCartney trotz seiner exzellenten Stimme nicht in diese Falle getappt ist, oder sagen wir: selten, ist nicht die geringste seiner Leistungen. Heute wird der Entertainer, Komponist, Produzent und Multiinstrumentalist 70.

Wer an McCartneys Stimme denkt, wird vielleicht zuerst an die Balladen denken, an das unvermeidliche und überschätzte "Yesterday", an "Eleanor Rigby" und "Blackbird" mit den Beatles, an "Mull Of Kintyre" mit Wings. Oder an die unmöglichen Harmonien, die Pauls glockenhelle, melodiöse und tonsichere Stimme und John Lennons nasaler, oft hart an der Grenze zum Atonalen wandernder Kontrapunkt produzierten - zuerst beim ersten Beatles-Single "Love Me Do" und dann immer wieder; am besten vielleicht in "There's A Place". Den Effekt reproduziert er mit Stevie Wonder auf "Ebony And Ivory".

Wie gut McCartney wirklich singen kann, hört man aber erst, wenn man den Rocker hört. Selten ist eine Coverversion besser als das Original. Aber in der Beatles-Version von "Long Tall Sally" singt McCartney Little Richard an die Wand. Wenn er richtig loslässt, ist er einer der ganz großen Blues-Shouter: "Kansas City", "I'm Down", "Why Don't We Do It In The Road?", "Helter Skelter" mit den Beatles etwa, sein "russisches Album" von 1988 oder das bitterböse "Gratitude" auf dem Soloalbum "Memory Almost Full".

Ein früher Kritiker stellte fest, die Beatles seien "eher kompetente als virtuose" Musiker, und das stimmt, wobei man bei Starr und Harrison das Adjektiv "originell" hinzufügen müsste. Die Ausnahme freilich ist McCartney. Sein Bass-Spiel ist - vom ersten Track auf dem ersten Beatles-Album, "I Saw Her Standing There", über das vom Bass zusammengehaltene symphonische Medley auf "Abbey Road" bis heute - virtuos (und originell) geblieben. Er kann alles, ob er einen Tuba-Wechselbass auf "When I'm Sixty-Four" imitiert oder einen Motown-Lauf auf "Drive My Car". Dass er überdies ein Egomane ist, der schon bei den Beatles am liebsten alle Instrumente auf "seinen" Songs selbst gespielt hätte und oft genug gespielt hat, macht ihn zwar nicht sympathischer, zeigt aber, wie sehr ihn der Drang zur Perfektion immer angetrieben hat.

Dass McCartney, der "hübsche Beatle", der "Sonnyboy", auch eine unangenehme und eine tragische Seite hat, dürfte kaum verwundern. "Wie wichtig ist es, hier Erfolg zu haben?", wurden die Beatles 1963 gefragt, als sie in Paris eher distanziert aufgenommen wurden. "Es ist immer wichtig, Erfolg zu haben", antwortete McCartney.

Tragisch ist McCartney, weil aller Erfolg nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er als Komponist seine beste Arbeit vor über 40 Jahren - mit den Beatles - abgeliefert hat. Nach den Beatles hat er nur wenige Klassiker geschrieben: "Another Day", "Mull Of Kintyre", "Hope Of Deliverance", das grandiose "Live And Let Die". Aber kaum etwas, das an "She's A Woman" oder "Hey Jude" herangereicht hätte.

Groß ist McCartney freilich, weil er sich nie damit abgefunden hat. Nach den Beatles gründete er die Wings, eine Glam-Rock-Gruppe, die in den 1970er-Jahren zu den erfolgreichsten Bands des Jahrzehnts gehörte. Mit "The Fireman" hat er elektronische Musik gemacht und mit diversen Mitarbeitern auch klassische Oratorien und Orchesterwerke. Dass all das immer gemessen wird an den Beatles, dass er immer wieder gewogen und ohne Lennon für zu leicht befunden wird, ist der Schatten, der auch auf diesen Geburtstag fällt.

Ehrungen hat er zuhauf erhalten. Sir Paul McCartney hat am Buckingham Palace für die Queen und im Weißen Haus für Barack Obama gesungen. Er wird bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in London auftreten. Mit 70 macht die Stimme immer noch fast alles, was er von ihr verlangt. Wenn man ihm etwas zum Geburtstag eines wünschen könnte, dann dies: dass es ihm, bevor die Stimme versagt, gelingen könnte, ein Werk zu schreiben, in dem er dem Schatten entgegentritt, der ihn seit mehr als 40 Jahren verfolgt.