Hamburg. Auch wer sich nur im Erdgeschoss aus dem Fenster lehnt, kann auf der Nase landen. So hatten wir im Vorfeld des Konzerts von Evanescence am Dienstag in der ausverkauften Großen Freiheit 36 herausposaunt, dass vor allem die Vorband das Eintrittsgeld wert sei.

Aber die Retro-Rocker Rival Sons aus Los Angeles gehen nach mehreren großartigen Konzerten in Hamburg an diesem Abend unter. Der Sound ist mies, die Show überraschend introvertiert und die Leomuster-Spandexhose von Sänger Jay Buchanan brennt ebenso in den Augen wie die Schweißdämpfe, die den vollen Saal vernebeln.

Und dann kommt Evanescence. Die Dark-Rock-Band aus Little Rock ist auf dem Papier - sprich auf drei Top-Ten-Alben - eigentlich die weniger interessante Gruppe. Aber schon der Auftaktdonner des fantastischen Schlagzeugers Will Hunt straft alle Vorurteile über vermeintlich Mainstream-affinen, belanglosen Billboard-Rock Lügen. Dazu ist Sängerin Amy Lee offenbar deutlich bestrebt, die in fünf Jahren Albumpause angesammelten Pölsterchen schnell wieder loszuwerden. Schon bei den ersten Songs aus dem aktuellen Album "Evanescence" wie "What You Want" oder "The Other Side" lassen ihre Energie und ihre tadellose Stimme die Haare in den ersten Reihen wehen. Selbst wenn Lee sich wie bei "My Heart Is Broken" an den Flügel oder an das Keyboard setzt, geht nichts von ihrer beeindruckenden Präsenz verloren.

Letztendlich fallen nur wenige Songs, besonders "Sick" und "Whisper", aus dem Rahmen recht herkömmlicher Brecher-Kompositionen; aber an der Präsentation von nach neun Jahren eigentlich übergehörten Hits der Marke "Bring Me To Life" gibt es überhaupt nichts auszusetzen. Einzig die Spielzeit von 75 Minuten ist nach dem Finale mit "Your Star" und dem Balladen-Drama "My Immortal" etwas knapp bemessen. Was soll's. Wir fallen in den großen Applaus ein, reiben uns den Schweiß aus den Augen - und die Nase (siehe oben!) tut auch schon nicht mehr weh.