Die digitalen Medien revolutionieren die Kunst und auch die Wahrnehmung. Ein Plädoyer für das seltene und kostbare Gut Aufmerksamkeit.

Hamburg. Die Hälfte aller Theater und Museen schließen? Blöde Idee. Es kann nicht genug Kultur-Einrichtungen geben, sie machen nämlich die Seele schön und den Menschen anständig. Nur Ignoranten wie zum Beispiel die seltsame Clique von Kulturbetrieblern, die kürzlich den "Kulturinfarkt" diagnostiziert hat, verschließen sich dieser Einsicht. Wissen sie nicht, dass es in Zukunft, dieser seit je düsteren Schimäre, jedes einzelnen Ortes der Konzentration, der Sammlung und des Ernstes bedarf? Dass jeder subventionierte oder nicht subventionierte Altar der Kunst zählen wird, wenn die Bildschirme und Displays uns alle in sie einzusaugen drohen? Wenn Kultur oder das, was von ihr übriggeblieben ist, im Internet stattfindet. Oder zumindest: Wenn die Kunst sich den Gepflogenheiten der neuen Medien angepasst hat und ganz Oberfläche geworden ist.

Um was geht es?

Nennen wir es die Verflachung der Kunst. Sie wird unweigerlich folgen, wenn sich die Häppchenkultur, wie sie das Internet transportiert und aufbereitet, als vorherrschende Form etabliert. Sicherlich ist das World Wide Web ohnehin nicht der Ort der hehren Kunst, sondern der der Unterhaltung.

Kognitionsforscher und Computerwissenschaftler haben schon längst herausgefunden, dass Fans von Computerspielen und Surfer gut im Multitasking sind (sie können Dinge gleichzeitig wahrnehmen und tun) und schlecht, wenn es um Aufmerksamkeit und Konzentration geht. Der Internet-Beat ist schnell, er verändert Art und Weise, wie wir Dinge aufnehmen und rezipieren. Wir sind es mittlerweile gewohnt, per Klick Impulse und Stimulation zu empfangen. Die Beschleunigung der Sinneseindrücke stellt eine Gefahr für die Kontemplation dar, für das Sich-Hineinversenken in eine Sache. Konzentrierte Reflexion, Wandern in den Gebirgen des Geistes, Zauber der Imagination: All das steht auf dem Spiel, wenn wir unseren Lebensstil immer mehr den digitalen Medien ausliefern.

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Wer wird künftig noch mit schwierigeren Stoffen ringen, die Langmut und Fokussierung erfordern? Autoren befürchten eine stetig wachsende Unduldsamkeit literarischen Werken gegenüber. Gewiss, hermetische Lyrik hatte noch nie ein großes Publikum, und die immer schnellere Taktung der Welt ist ein alter Hut - ein klassisches Klagelied der Moderne. Die Gefährdung der langsamen Medien durch die schnellen ist seit der Erfindung des Fernsehens ein Thema. Aber die digitale Revolution wirkt noch viel stärker in alle Lebensbereiche und verändert eben auch unseren Erwartungshorizont, was Kunst und Kultur angeht.

Die ständige Verfügbarkeit des Menschen wird durch die Handy-Kommunikation bewerkstelligt, und er selbst macht sich Information und Spielerei immer und überall verfügbar, wenn er sein iPhone mit sich herumträgt. Wir leben in einer Informationsgesellschaft - wie lernt man das: die Bilder Caspar David Friedrichs oder Picassos zu entschlüsseln, wenn Twitter oder bild.de selbst im Museum nur einen Klick weit entfernt sind? Viel Chuzpe braucht man nicht, um die Behauptung aufzustellen, dass es insbesondere die Lesekultur ist, die einem Schrumpfprozess unterworfen ist.

Die These von US-Autor Nicholas Carr, wonach durch das Internet das Hirn des Menschen rückgebildet wird, muss nicht richtig sein, um zumindest eine Oberflächlichkeit des Lesens festzustellen, wo jeder dem nächsten Link hinterherklickt. Nein, dies sind nicht die Zeilen eines Reaktionärs: Das Internet ist eine der besten Erfindungen überhaupt. Zum Beispiel, weil es irgendwann eine einzigartige Sammlung aller Texte darstellen, weil es das Gedächtnis unserer Kultur sein wird: Und jeder hat Zugriff (für den er im Falle des Falles gefälligst auch zahlt). Internet = Freiheit, diese Formel steht.

Aber mit der Freiheit, immer und überall Zugriff auf die Texte zu haben, verändert sich auch die "Kultur der literarischen Aufmerksamkeit", wie die "Süddeutsche Zeitung" unlängst das genaue Lesen nannte. Es ist leicht zu beobachten bei einem selbst: Wie man, gerade bei Sachtexten, die auf dem Bildschirm aufploppen, immer mehr zum Scanner, Kopierer, Benutzer wird.

Diese Minderung des Zeitaufwandes, der mit Konzentration verbunden ist, verändert das Rezeptionsverhalten. Wer beim Lesen an der Oberfläche bleibt, der durchdringt den Gegenstand nicht, der erfasst das Geschriebene nicht intellektuell, der bringt die Buchstaben nicht zum Schwingen. Und wer nicht länger genau liest, der nimmt in sein Sprechen vielleicht auch nicht mehr das auf, was andere so schön, so klug oder so treffend gesagt haben - geflügelte Worte kommen so nicht endgültig nicht mehr aus den Romanen.

Ein bildungsbürgerlicher Wortschatz darf und muss heute auch aus den Slogans der Pop- und Werbekultur bestehen. Der Schatz der Redewendungen ist beweglich und veränderbar: Aber was verlören wir, zitierte in Zukunft niemand mehr Goethe oder Heine, weil ihre Werke den Internet-getriebenen Schnelllesern zu sperrig sind? Es ist die Frage, ob der auf das flott geschnittene Kunstwerk von YouTube zugerichtete Konsument noch moralische Erkundungen unternimmt, ob er eine ästhetische Erbauung und Erziehung bekommt. Die Möglichkeiten des E-Books werden in dieser Sicht auf die Dinge schal: Texte als Hypertexte mit Internetanschluss, als Schriftwerke mit audiovisuellen Begleiterscheinungen: Das sind Imaginationskiller.

Nachdem das Abendland erst mal untergegangen ist, weil niemand mehr lange Theaterstücke mit komplizierter Handlung sehen oder echte Bücher mit vielen Buchstaben und ausufernder Handlung lesen wollte, wird es eine Renaissance des Nachdenkens und der durch die Kunst beförderten Sammlung des Individuums geben: das Theater, das Museum und das Kanapee mit dem Buch auf dem Beistelltisch als technologiefreie Zonen.

Kulturinfarkt durch Schließung von übersubventionierten Theatern? Wohl kaum. Viel eher droht uns irgendwann das Interesse an der Kunst abhanden zu gehen, weil wir uns mit leichtgängigeren Stoffen vergnügen, die vornehmlich auf Bildschirmen dargereicht werden. Hochwertige, artifizielle Kultur hat es nie ganz leicht gehabt; um unseren Denkapparat für sie offenzuhalten, benötigen wir die richtige Einstellung zur schönen, neuen Welt des Digitalen. Das Internet bringt Freiheit und Information, es macht einen schlau, ja. Es vermittelt Wissen. Man kann es besuchen, wann immer man will. Aber man muss auch mal offline sein. Die Kunst mag das langsame Leben.