Ohne Inspizienten wie André Saunier vom Thalia-Theater sind fehlerfreie Theateraufführungen ein Ding der Unmöglichkeit.

Hamburg. Es gibt diese unermüdlichen Arbeiter im Hintergrund. Sie stehen nicht im Rampenlicht. Keiner kennt ihre Namen. Und doch würde ohne sie nichts laufen. In keinem Großkonzern, erst recht in keinem Stadttheater. André Saunier ist einer von ihnen. Zwei Stunden vor Beginn von Stefan Puchers "Quijote. Trip zwischen Welten", stellt der drahtige 59-Jährige seine Tasche im Dunkel der Bühne ab. Sein Arbeitsplatz misst etwa einen mal einen halben Meter. André Saunier ist Herr über das Inspizientenpult. Und ohne das läuft gar nichts am Thalia-Theater.

Der Zuschauer merkt das in der Regel nicht. Es sei denn, es geht etwas schief. So wie bei der "Quijote"-Uraufführung im Januar. "Das war der totale Stress. Die Lichtzeichenanlage war ausgefallen. Die Sprechtasten auch. Mir blieben nur zwei Funkkanäle." Die stöpselte er dann eifrig hin und her, damit er zu allen Gewerken, wie es am Theater heißt, von der Maske über das Kostümbild bis zur Beleuchtung Kontakt halten konnte. Sein Team und er haben es tatsächlich geschafft. Alles lief planmäßig. Hätte der Intendant nicht vor der Vorstellung eine Ansage gemacht - die Zuschauer hätten nichts bemerkt.

Heute soll alles normal laufen. Auch wenn die Besetzung nervös ist. Das Stück steht zum ersten Mal seit drei Wochen auf dem Spielplan, weil Don-Quijote-Darsteller Jens Harzer vergrippt war. Die neunte Vorstellung. Harzer schlurft im Halbdunkel auf ihn zu. "Hallo André" begrüßt er Saunier. Man kennt sich. Man schätzt sich.

Arbeiter tragen noch Teile des Bühnenbildes durch die Gegend. Manche schimpfen. Andere fluchen. Der Ton erinnert eher an ein Bergwerk als an einen Musentempel. Saunier bleibt freundlich. Er schiebt seine schlanke Gestalt auf den Drehstuhl, rückt die Brille zurecht und wuchtet sein schweres Buch auf den Tisch. Haarklein ist alles darin vermerkt. Der gesamte Text und die kleinste Regieanweisung. Bleistiftzeichnungen zeigen an, wann die Drehbühne um 90, wann um 180 Grad gedreht werden muss.

Saunier ist als Inspizient das Bindeglied zwischen Kunst und Technik, Schnittstelle zwischen Regisseur und Bühnentechnikern. Er steuert die Inszenierung von seinem Pult aus, das mit zwei Monitoren, optischen und akustischen Signalanlagen ausgestattet ist. Jetzt rückt er sein Headset gerade. "Gabriela Maria Schmeide bitte zur Sprechprobe." Bruno Cathomas, der den Sancho Pansa spielt, kommt aus der Maske, Schlapphut, die Haare strähnig, er schwenkt eine Trompete in der Hand. "Wie ist noch mal die Reihenfolge der Knöpfe?" fragt er. "Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, zwei, drei, eins", beruhigt ihn Saunier. Er ist nicht nur technischer Ansprechpartner, sondern auch Psychologe. Mit hartnäckiger Sanftheit hält er auch Händchen, wenn die Nerven blankliegen.

Seit 25 Jahren ist er am Thalia. Angefangen hat der gebürtige Franzose nach einer ordentlichen Ausbildung an der Theaterhochschule noch unter Intendant Jürgen Flimm. "Das waren die Jahre, in denen das Regietheater aufkam", sagt er. "Da habe ich wahnsinnig viel gelernt." Viel habe sich seither verändert. Die Bühnenbilder wurden immer reduzierter. Aber selbst eine relativ statisch aufgebaute Arbeit, wie die eines Michael Thalheimer unter Intendant Ulrich Khuon, hat ihre Tücken. "Ich habe so viele Lieblinge. Ein kleines Computerstück wie 'Andersen' oder jetzt 'Qijote' von Pucher, wo andauernd etwas passiert, wo viel Musik und Video eingebunden sind, das ist natürlich besonders toll." Saunier betreut auch Nicolas Stemanns Marathon "Faust I und II", die "Räuber" und die Arbeiten von Oberspielleiter Luk Perceval. Bis zu vier Inszenierungen sind es pro Spielzeit, die er von der ersten Bühnenprobe an begleitet und bis ins Kleinste kennt.

"Soundcheck für die Herren Cathomas und Meyer, die Drehscheibe und die Maschine besetzen, bitte. Position 330, bitte." Die Musiker Carsten Meyer und Ben Schadow erklimmen die Drehbühne. Cathomas singt das wunderbar kitschige "Luz de Luna".

Während Saunier erzählt, hat er immer das Geschehen im Blick. "Ich bin routiniert genug, damit ich mich in Ruhe unterhalten kann. Aber man braucht schon Nerven wie Drahtseile", sagt er. "Wenn etwas schiefgeht, ist man immer der Sündenbock." Das passiert so gut wie nie. Gelassenheit ist die oberste Tugend des Inspizienten. Er entscheidet, wenn hinter der Bühne eine rote Lampe leuchtet, ein Schauspieler seinen Auftritt hat. Sobald die Lampe ausgeht, betritt der Darsteller die Bühne. "Achtung, alle zum Schlusslied, bitte", sagt Saunier durch. Mehrmals muss er Daniel Lommatzsch ausrufen. Heute seien die Schauspieler pflegeleichter als früher. "Man muss sie schon verhätscheln, aber vor allem die jungen Leute sind sehr folgsam." Es wird letzte Hand an die Bühne gelegt. Ein Putztrupp wischt Theaterblut ab. Der "Eiserne" fährt herunter. Der Schutzwall zum gefürchteten Publikum, der eiserne Vorhang.

"Es ist 19.30 Uhr, meine Damen und Herren, es ist 19.30 Uhr. Es ist Einlass. Es ist Einlass", tönt Sauniers Stimme durch das Haus. Die Zuschauer strömen in den Saal. Der Inspizient genießt wenige freie Minuten Pause bis zur Vorstellung. So richtig gemütlich kann er sich nicht einrichten. Essen und Trinken sind nicht erlaubt. "Noch 15 Minuten bis zur Vorstellung", raunt er in seinem ruhigen, beflissenen Ton durch die Sprechanlage. Auf das schlimmste Lampenfieber muss das wie ein Sedativum wirken. Der Countdown läuft. Auf der Bühne nimmt die Anspannung zu. "Noch fünf Minuten bis zur Vorstellung", sagt Saunier. "Ich bin heute so nervös, es ist unglaublich. Das wird heut' eine Katastrophe", sagt Cathomas. "Sind auch Zuschauer drin?"

"Achtung, zum Stückbeginn für Herrn Harzer, Herrn Cathomas, Herrn Meyer, Herrn Schadow, bitte", ruft Saunier. Kurz vor der Vorstellung sei er immer etwas aufgeregt. Er bekomme dann kalte Hände. "Achtung, wir fangen an", schallt es durch alle Gänge des Hauses. "An einem Ort in der Mancha", hebt auf der Bühne Carsten Meyer zur Gitarre an. Die Vorstellung beginnt. Vom Pult aus sieht man nicht bis zur Rampe, ist auf die Monitore angewiesen. "Position zwei und drei besetzen, bitte", raunt Saunier in sein Headset.

Die Inszenierung nimmt Fahrt auf. Harzer und Cathomas als ungleiches Duo Quijote und Panzer spielen sich die Textbälle zu. Das Trompetensolo klappt. Gabriela Maria Schmeide lässt ihre Wutbürger-Schimpftirade ab. André Saunier drückt ab und zu Knöpfe oder raunt ins Mikro. "Achtung für Frau Ziolkowska und Requisite, bitte."

Einmal geht die Drehbühne ungeplant los. Die Techniker wurden nervös, weil sie sich so lange nicht bewegt hatte. "Da muss man ruhig bleiben", sagt Saunier. Cathomas steigert sich in seinen Monolog hinein. "Ein Techniker für das Gebläse, bitte", murmelt Saunier. Harzer weicht eine ganze Passage lang vom Textbuch ab. Aber diesen Freestyle ist Saunier gewohnt.

Nach zwei Stunden ist die Vorstellung zu Ende. Applaus brandet auf. Immer wieder müssen sich die Schauspieler verbeugen. Patrycia Ziolkowska ärgert sich, weil sie in ihrem Monsterabschlussmonolog eine Textzeile ausgespart hat. Die Souffleuse beruhigt sie. Der Anschluss habe trotzdem gepasst. Überall glücklich strahlende Gesichter. Harzer hat sein Hemd durchgeschwitzt und muss sich kurz setzen, um herunterzukommen. Saunier füllt den Vorstellungsbericht aus. Der "Eiserne" schiebt sich nach unten. "Das war's, danke." Bis zur nächsten Vorstellung.

"Quijote. Trip zwischen Welten" 30.5., 20.00, Thalia-Theater, Karten unter T. 32 81 44 44