Franziska Stünkel führt Regie bei einem besonderen Projekt, bei dem heute 100 Menschen von Kamerateams begleitet werden.

Ziel des Künstlers ist es ja, die Welt zu erfassen. Einfach alles. Inklusive Himmel, Berge, Meer, Liebe, Glück, Tod. Weil alles mit allem in Beziehung steht. Irgendwie. Wie genau, dafür hat sich die Regisseurin, Autorin und Fotografin Franziska Stünkel seit jeher interessiert. "Meinen Arbeiten liegt die Annahme zugrunde, dass uns universelle Gefühle verbinden", sagt Stünkel. Diese einerseits für den Zuschauer sichtbar, spürbar zu machen, auf der anderen Seite eine schwer zu übertreffende Vielfalt aufzuzeigen - darin besteht die Aufgabe der 37 Jahre alten, am Steinhuder Meer aufgewachsenen Regisseurin beim "Tag der Norddeutschen" an diesem Freitag.

Vom "Medienereignis des Jahres" schwärmt der NDR auf seiner Homepage - und zumindest was den Aufwand anbelangt, könnte es das tatsächlich werden: 100 Menschen werden von Kamerateams begleitet, von sechs Uhr morgens bis Mitternacht. Der 18-stündige Film, der aus dieser Fülle an Material entsteht, wird ein halbes Jahr später, am 10. November, im Fernsehen zu sehen sein. In Echtzeit. Wenn der Zuschauer sich um sieben Uhr früh ein Marmeladenbrötchen schmiert, schlägt womöglich auch die Hundetrainerin aus Buxtehude auf dem Bildschirm gerade die Morgenzeitung auf.

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Vom Single bis zur Großfamilie, vom Straßenmagazinverkäufer bis zum Millionär, von der Geburtenstation bis zur Seebestattung - Protagonisten und Orte sind bewusst breit gestreut gewählt, sollen sie doch zeigen, wie facettenreich das Leben von Rügen über Bremen bis Papenburg, von Flensburg bis Göttingen ist. "Die Vielfalt des Nordens abbilden", nennt es Stünkel. Es kann einem schwindlig werden bei der Überlegung, wie all die Menschen und ihre Tagesgeschäfte miteinander in Einklang gebracht werden sollen, wie aus 100 Einzelschicksalen ein Gesamtwerk, eine Geschichte werden soll. Um den Überblick zu behalten, hat Stünkel in ihrem Büro in Hannover eine zehn Meter lange Wand errichtet, zugepflastert mit bunten Zetteln, Strichen und Pfeilen. Was bei Spielfilmen das Drehbuch leistet, übernimmt in diesem Fall die Planungswand: das Vorfühlen der Geschichte, wie sie nach Vorgesprächen mit den Protagonisten ablaufen könnte. Im Idealfall. Wenn das Schicksal sich nicht einmischt. Wenn, wenn, wenn ...

Vielleicht liegt im Unvorhersehbaren aber gerade auch der Reiz des Projektes. "Der Mensch, der uns mitnimmt in seinen Tag, bestimmt den Rhythmus", sagt Stünkel, die in eine Art Spontanekstase verfällt, wenn sie von ihrem derzeitigen Job redet. "Wir intervenieren nicht, wir manipulieren nicht, es sind ganz authentische Tage, die wir mitverfolgen." Weniger brauchte es für den "Tag der Norddeutschen" einen Regisseur, der über hellseherische Fähigkeiten verfügt, als jemanden mit einem Gespür für Menschen und Geschichten. Stünkel hat dies unter anderem in ihrem Kinofilm "Vineta" bewiesen, ein psychologisches Kammerspiel mit Peter Lohmeyer, Matthias Brandt und Ulrich Matthes. Ihr Kurzfilm "It's a small World" handelte von der Gleichzeitigkeit der Ereignisse, von vier parallelen Schicksalen. Vor Kurzem hat sie mit dem Schauspieler Kai Wiesinger die Fotoausstellung "Dialog der Geschichten" in Hamburg eröffnet.

Kein Klischee wolle sie abbilden, sagt sie. Stattdessen: den Menschen dort draußen zuhören, die freiwillig für die Kameras ihre Türen öffnen. Wach bleiben dem Projekt gegenüber, mit dem sie seit einem Jahr befasst ist. "Mich interessiert nicht der kurze, reißerische Blick von außen", sagt Stünkel, während sie versucht, zwischen zwei Sätzen ein Stück Pfannkuchen zu schlucken. "Es muss eine Einlassung auf den Menschen stattfinden - aber man darf vor lauter Einzelschicksalen nicht die Vielfalt aus den Augen verlieren." Ein Balanceakt. Eine Herausforderung.

Auch prominente Gesichter nehmen am "Tag der Norddeutschen" teil: Ein Kamerateam begleitet Axel Milberg zum "Tatort"-Set, ein anderes Barbara Schöneberger und Hubertus Meyer-Burckhardt zur Aufzeichnung der "NDR Talkshow". "Ein Film von Menschen für Menschen" soll es werden, sagt Stünkel, "ein Zeitdokument". Schöne Vorstellung eigentlich: Wenn wir hier unten längst zu Sternenstaub zerfallen sind, existiert irgendwo ein Dokument, auf dem festgehalten ist: So war das Leben im Norden Deutschlands, damals, an einem Freitag im Mai.