Die Autorin Joan Didion widmet den Roman “Blaue Stunden“ ihrer 2005 gestorbenen Tochter

Es ist ein besonderes Licht, in das dieser Text getaucht ist. Die amerikanische Autorin Joan Didion hat ihr Buch "Blaue Stunden" genannt. Im Prolog beschreibt sie die Atmosphäre, die in New York in den Wochen vor und nach der Sommersonnenwende entsteht, wenn die Dämmerungen lang und blau werden. Im Frühjahr wirkt das wie ein Versprechen, der Sommer scheint nah. "Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden", sagt Didion. Doch wenn die Tage kürzer werden, verändern die blauen Stunden ihre Stimmung. Man spüre, dass man sich dem Ende des Versprechens, der Unausweichlichkeit des Vergehens, dem Sterben des Glanzes nähere.

Joan Didion hat dieses Buch ihrer Tochter Quintana gewidmet, die 39-jährig 2005 gestorben ist. Für die Autorin war es der zweite schwere Schicksalsschlag kurz hintereinander. Ihr Ehemann, der Autor John Gregory Dunne, starb 2003 an einem Herzinfarkt. Ihre Ohnmacht hat Didion damals in dem Buch "Das Jahr magischen Denkens" zu überwinden versucht.

Nun also ein Buch, das die Trauer über die Tochter verarbeitet? Das sicher auch, doch dieser Text ist vielschichtiger, er ist sehr persönlich und weist doch weit über das Autobiografische hinaus. Didions eigentliches Thema ist "diese Unfähigkeit, der Unausweichlichkeit des Älterwerdens, der Krankheit und des Todes ins Auge zu sehen".

Sie versucht sich ihre Tochter zu vergegenwärtigen, indem sie Momente, Bilder, Erlebnisse und auch Krimskrams sammelt, Dinge, die ihr beim Wiedersehen "fast das Herz brechen". Doch sie erkennt auch, dass die "wunderbaren Erinnerungen" verschwimmen und dass sie kein Trost sind. Es tritt sogar der gegenteilige Effekt ein, dass Quintana sich immer weiter von ihrer Mutter entfernt. Je intensiver Joan Didion über einzelne Situationen nachdenkt, desto deutlicher glaubt sie zu erkennen, wie wenig sie über ihre Tochter wusste. Sie klagt sich selbst dafür an, dass sie ihre Tochter nicht als eigenständige Persönlichkeit wahrnehmen konnte. Und Joan Didion fragt sich: "Habe ich ihr ganzes Leben dafür gesorgt, dass es eine schalldichte Wand zwischen uns gab?"

Allmählich verlagert sich der Akzent im Buch von der Trauer über Quintana auf die Folgen für die Mutter. Nach dem Tod der Menschen, die ihr am nächsten standen, wurde Joan Didion geraten, jetzt vor allem "in Schwung zu bleiben". Doch die Flucht in die Aktivität währte nicht lange. Auch wenn die heute 77 Jahre alte Autorin es nicht wahrhaben wollte, spürte sie, wie ihre Kräfte schwanden und sie anfällig für Krankheiten wurde. Sie ahnt, dass die Zeit ihrer blauen Stunden sich dem Ende nähert, und notiert lakonisch, dass jetzt nur noch ein Platz übrig sei: "Im Traum höre ich die Sechs-Uhr-Glocken. Im Traum sehe ich, wie die Kathedrale dunkler wird und die Türen geschlossen werden. Sie können sich vorstellen, wie der Traum weitergeht."

Joan Didion : "Blaue Stunden". A. d. Amerik. von Antje Rávic Strubel, Ullstein, 208 Seiten, 18 Euro